REFUTS-Kolloquium Toulouse, 4. bis 6. Juli 2016
Welche Rolle spielt „Social Engineering“ in Europa für Sozialarbeiter und „Betroffene“?
Ziel des Kolloquiums ist die Beschäftigung mit der „ingénierie sociale“ bzw. mit „Social Engineering“. Dabei handelt es sich um eine Form der Begutachtung sozialer Bedürfnisse, welche die Umsetzung von zweckmäßigen Instrumenten zur Intervention im sozialen und sozialmedizinischen Bereich sowie im Bildungs- und Gesundheitsbereich umfasst.
Gemäß einer möglichen Definition entspricht „Social Engineering“ der Tätigkeit eines „Technikers“, der hilft, gemeinsame Lösungen (Projekte) auf einem gesellschaftlichen Gebiet zu finden, auf dem Einfluss, Kompetenz und Sachkenntnis auf verschiedene Akteure verteilt sind. „Social Engineering“ umfasst Kompetenz beim Beobachten, beim Analysieren des Umfelds (Bedürfnisse, Positionierung der Akteure), beim Identifizieren von Aktionshebeln, beim Durchführen und Begleiten von Projekten, die an die Gegebenheiten vor Ort angepasst sind, sowie beim Evaluieren. Es handelt sich um die Fähigkeit, Ressourcen im Dienste eines gemeinschaftlichen Projekts zu mobilisieren, oder auch um eine intelligente technische Gesamtleitung.
Vincent de Gaulejac schreibt hierzu: „Angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit, der Verarmung zahlreicher sozialer Gruppen und des sozialen Abstiegs von Stadtvierteln sind neue Interventionsmethoden erforderlich, um Exklusion zu bekämpfen und die Entwicklung des sozialen Lebens zu fördern. Angewandte Sozialwissenschaften schlagen Methoden vor, die auf eine andersartige Durchführung von Entwicklungsprojekten in so unterschiedlichen Bereichen wie sozialer Wohnungsbau, Schaffung von Arbeitsplätzen, Bildung und Eingliederung von Jugendlichen abzielen, aber auch auf soziale und kulturelle Aktivitäten. (…) Drei Leitlinien kennzeichnen die angewandten Sozialwissenschaften: eine auf der Analyse komplexer Situationen basierende Methode, Ausarbeitung gemeinschaftlicher Projekte und Umsetzung von Entwicklungsstrategien; – eine Veränderung der institutionellen Arten der Intervention, welche die Entwicklung einer konzertierten Aktion und die Fähigkeiten zur Mobilisierung von sozialen Akteuren, Nutzern und Bürgern fördert; – eine dynamische Beurteilung von Programmen und Projekten, die auf der Einbeziehung von betroffenen Akteuren und auf der permanenten Integration von Überlegungen und Maßnahmen beruht.“
Anders gesagt ist „Social Engineering“ eine Form der Begutachtung „sozialer Probleme“, die auf geisteswissenschaftlichen Kenntnissen beruhen und die Umsetzung von sozialen Eingriffen bzw. Maßnahmen ermöglichen sollen
Für „Social Engineering“ sind daher Kompetenz, die Umsetzung von geisteswissenschaftlichem und „fachlichem“ theoretischem Wissen erforderlich und das Zurückgreifen auf Methoden des Nachforschens und der Diagnose sowie auf Methoden zur Durchführung und Begleitung von Projekten.
Die Tätigkeit ist weder die eines Managers, noch die eines Verwalters, eines Auditors oder eines Forschers, sondern eher eine Mischform. Sicherlich lässt sie Fragen dazu aufkommen, welche Haltung gegenüber den Zielgruppen der Politik sowie gegenüber den Auftraggebern dieser Politik (Regierungen, lokale Behörden usw.) einzunehmen ist.
Der politische und soziale Kontext dieser Tätigkeit verdient zweifellos Berücksichtigung. Es ist bekannt, dass der Sozialstaat allgemein einen tiefgreifenden Wandel durchläuft. Interessant wären auch genauere Erläuterungen zu den jeweiligen nationalen Kontexten.
Der alte Sozialstaat, der nach der industriellen Revolution im Nationalstaat entstand, wäre zu passiv (daraus entstand die Idee einer Aktivierung der Sozialpolitik) und zu wenig an die neuen prekären Situationen und Risiken angepasst. Das New Public Management und der Wettbewerb unter den Behörden könnten dafür sorgen, dass der Sozialstaat effizienter wird. Die Teilhabe der „Betroffenen“ stellt eine strategische Achse der europäischen Sozialpolitik dar, um ihr soziales Modell zu modernisieren und „Schritt für Schritt ein soziales Europa aufzubauen, das mehr auf die humanen Ressourcen achtet, näher an den Bürgern ist und sich mehr für deren Wohlergehen interessiert“. Das Kolloquium möchte damit zum Nachdenken darüber auffordern, welchen Anteil zwei verschiedene Kategorien von Akteuren, d. h. Sozialarbeiter und „Betroffene“ an der Einführung, Umsetzung und Anpassung von Sozialpolitik haben.
I. Welche Teilhabe haben Sozialarbeiter an „Social Engineering“? – Montag, 4. Juli
In Frankreich können Sozialarbeiter nach einigen Jahren Berufserfahrung ein staatliches Diplom für den Fachbereich „Social Engineering“ erwerben, das „Diplôme d’État d’Ingénierie sociale“. In Belgien werden Sozialarbeiter im Bereich „Social Engineering“ ausgebildet. Aber auch die Hochschulen haben einen Master in „Social Engineering“ und sozialem Handeln eingeführt.
Wie steht es in den verschiedenen Ländern um den Kompetenzerwerb im Bereich des „Social Engineering“? Erfolgt dieser während der Grund- bzw. Erstausbildung? Welche Berufe sind davon betroffen? Treten Sozialarbeiter in Konkurrenz mit Fachleuten, die ihre Ausbildung an anderer Stelle erhalten haben (Ausbildungsinstitute für Management, Betriebswirtschaft, öffentliche Verwaltung usw.)?
Über welche Kompetenz genau verfügen Sozialarbeiter, um geografische Räume, Instrumente oder die Bedürfnisse einer Bevölkerung zu begutachten oder um eine Diagnose zu erstellen? Welches Wissen und welche Methoden werden mobilisiert?
Inwiefern prägt die Ausbildung des Sozialarbeiters das „Social Engineering“? Oder anders gesagt: Was unterscheidet die Begutachtung eines Experten, der über eine Grundausbildung im Bereich Sozialarbeit verfügt, von der anderer Experten (Juristen, Manager, Politiker, Sozialwissenschaftler, Verwaltungsfachleute usw.), die Diagnosen erstellen oder Projekte umsetzen können?
Wie unterscheidet sich die Tätigkeit im Bereich „Social Engineering“ von einem Audit oder von einer Management-Tätigkeit? Oder unterscheidet sie sich überhaupt?
Welche Autonomie genießen diejenigen, die diese Tätigkeit im Bereich „Social Engineering“ ausüben, gegenüber ihren Aufsichtsinstanzen und den öffentlichen Auftraggebern? Nehmen die Regierungen oder die mit der Sozialpolitik betrauten Verwaltungsstellen die Kenntnisse der Fachleute im Bereich Sozialarbeit in Anspruch, um einen geografischen Raum zu begutachten, die Sozialpolitik oder ein Instrument anzupassen oder um Veränderungen zu begleiten?
II. Die Rolle der Nutznießer bei der Begutachtung ihrer eigenen Bedürfnisse / des „Social Engineering“ – Dienstag, 5. Juli
Wie steht es um die „Teilhabe der Betroffenen“ − wie man heute so schön sagt − an dieser Begutachtung?
Seit einiger Zeit soll die Sozialpolitik effizienter, zweckmäßiger und bedarfsorientierter gestaltet werden. Werden die Einwohner seither von der örtlichen Verwaltung, von den Sozialarbeitern oder von den Experten nach ihren Bedürfnissen befragt? Und wenn ja, von welchen dieser Gruppen?
Welche Instrumente bestehen in den einzelnen Ländern, um diese Meinungen einzuholen und Bedürfnisse festzustellen? Was wird getan, um die Meinung der Nutznießer/Begünstigten der Politik einzuholen und diesen das Wort zu erteilen?
Wie formulieren die Experten Wünsche, Meinungen und Bedürfnisse der Nutznießer sozialer Maßnahmen neu, die auf die eine oder andere Art und Weise geäußert werden oder auch unausgesprochen bleiben?
Außerdem soll eine Verbindung zum ersten Teil des Kolloquiums hergestellt und der Frage nachgegangen werden, wie sich die Sozialarbeiter dieser Meinung der Nutznießer bedienen, um die Politik der öffentlichen Hand und die Instrumente weiterzuentwickeln. Bestehen Erfahrungen, bei denen sich die Sozialarbeiter als Mittler eingesetzt und Initiativen von Bürgern unterstützt haben, um das Recht und/oder die öffentliche Politik weiterzuentwickeln? Welche Maßnahmen können z. B. Sozialarbeiter heute ergreifen, um die Wünsche und Bedürfnisse von Migranten bekannt zu machen oder um zumindest die Initiativen der Migranten selbst oder die der Bürger bzw. Aktivisten zu unterstützen?
Genauso könnte man in Verbindung mit „Social Engineering“ (Diagnose, Begutachtung, Vorschläge für Maßnahmen) fragen: Welche Verbindung besteht zwischen Sozialarbeit und sozialer Bewegung?