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Fußball: Bei Geisterspielen verschwindet der Heimvorteil

29. September 2021

Fußball: Bei Geisterspielen verschwindet der Heimvorteil

Die Abwesenheit von Fans in Fußballstadien nimmt von Schiedsrichtern den sozialen Druck, was zu objektiveren Entscheidungen und weniger Heimsiegen führt. Das haben Psychologen der Universität Salzburg in einer vergleichenden Analyse von mehr als eintausend Matches europäischer Elite-Fußballligen mit und ohne Fans (Geisterspiele) herausgefunden. Bei leeren Fußballstadien bekamen die Heimmannschaften deutlich mehr gelbe Karten für Fouls, was auch den Heimvorteil stark schmälerte.

Um Schiedsrichter bei regulären Spielen gegen die unbewusste Bevorteilung von Heimteams zu schulen, schlagen die Psychologen den Einsatz von technologischen Hilfsmitteln wie „Virtual Reality“ vor. 

Die Studie „No Fans – No Pressure“ wurde im Fachjournal „Frontiers in Sports and Active Living“ publiziert.

Die Psychologen Michael Leitner und Fabio Richlan vom Centre for Cognitive Neuroscience der Paris Lodron Universität Salzburg (PLUS) analysierten insgesamt 1286 Fußballspiele europäischer Elite-Fußballligen (in Spanien, England, Deutschland, Italien, Russland, der Türkei, Österreich und Tschechien) der Saison 2018/19 und der Saison 2019/20. Zur einen Hälfte handelte es sich um Matches mit Fans, zur anderen Hälfte um entsprechende Runden – Corona-bedingt – ohne Fans. Die Pandemie bot diese einmalige Vergleichsmöglichkeit. Die Wissenschaftler untersuchten Statistiken zur Anzahl der ausgestellten gelben Karten und die Spielergebnisse.

Sie fanden heraus, dass diejenigen Schiedsrichter, die Geisterspiele leiteten, an Spieler der Heimmannschaften um ein Viertel mehr gelbe Karten wegen Fouls vergaben (plus 26,2 Prozent bzw. zahlenmäßig plus 238) als die Schiedsrichter, die in der regulären Saison vor vollen Rängen der Heimmannschaften agierten. Für Spieler der Gästeteams blieb hingegen die Anzahl der gelben Karten in den beiden Saisonen praktisch unverändert bzw. war nur marginal erhöht (plus 2,8 Prozent bzw. zahlenmäßig plus 28 gelbe Karten). Ebenso gab es keine Unterschiede zwischen den Heim- und Auswärtsteams bei gelben Karten für Kritik und Unsportlichkeit.

„Wir waren sehr überrascht von der Tatsache, dass die Heimmannschaften in Geisterspielen plötzlich so viel mehr gelbe Karten nur für Fouls erhielten. Wir vermuten, dass dies auch eine Erklärung dafür ist, warum Heimmannschaften bei Geisterspielen auf einmal deutlich öfter verloren als bei regulären Spielen“, sagt der Hauptautor der Studie Michael Leitner.

Betrug der Prozentsatz der gewonnenen Heimspiele in der regulären Saison 2018/29 mit Fans 48,1 Prozent, sank er bei den Geisterspielen auf 39,8 Prozent. Das ist ein Minus von 8,3 Prozent. (Umgekehrt gewannen die Mannschaften bei Auswärtsspielen um 8,3 Prozent öfter; die Zahl der unentschiedenen Spiele blieb gleich.) 

Doch warum erhielten die Heimmannschaften bei Geisterspielen mehr gelbe Karten für Fouls? War dafür vielleicht der Spielstand bzw. eine drohende Niederlage ausschlaggebend? „Die Statistiken zeigen, dass die Heimmannschaften unabhängig vom Spielstand häufiger bestraft wurden, so dass die gelben Karten für Fouls offenbar nicht das Ergebnis eines aggressiveren Spiels als Ausgleich für eine drohende Niederlage waren“, erklären Michael Leitner und Co-Autor Fabio Richlan.

Die beiden Forscher kommen zu dem Schluss, dass bei dem – von der Wissenschaft mehrfach bestätigten – Heimvorteil zwar auch Faktoren wie die emotionale Unterstützung durch vollbesetzte Tribünen eine wichtige Rolle spielen, dass aber die unbewusste Bevorzugung durch die Schiedsrichter eine der maßgebendsten Komponenten ist, warum Heimmannschaften tendenziell häufiger gewinnen als Auswärtsmannschaften. „Ähnliche Effekte konnten in sehr kleinem oder experimentellem Rahmen bereits in früheren Studien gezeigt werden. Unsere Analyse ist nun eine der ersten groß angelegten wissenschaftlichen Arbeiten, die diese Zusammenhänge in einem europäischen Kontext nachweisen konnte“, so die Forscher.

Als Kritik an der Tätigkeit der Schiedsrichter – egal welcher Sportart – möchten die Psychologen ihre Studie nicht verstanden wissen, betonen sie. „Der Druck auf die Spielleiter und Spielleiterinnen ist heutzutage unglaublich hoch und die Aufgabe ist enorm anspruchsvoll. Wir sind selbst begeisterte Sportler und respektieren die wertvolle Arbeit der Schiedsrichter in höchstem Maß.“

Vielmehr diene die Erforschung der Schiedsrichterpsychologie vor dem Hintergrund von Geisterspielen dazu, menschliches Verhalten noch besser zu verstehen. „Zahlreiche psychologische Studien und Experimente haben gezeigt, wie menschliche Entscheidungen durch Gruppenzwang manipuliert werden können. Aus evolutionärer Sicht sind wir Menschen Rudeltiere und daher hängen unsere Entscheidungen stark von unserer Umgebung, der Situation und den anwesenden Personen ab. Je mehr wir Psychologen über die Schwachstellen in der menschlichen Psyche wissen, die zu Konformität führen, desto wirksamere Interventionen und Gegenmaßnehmen können wir entwickeln“, erklären Leitner und Richlan.

In der Studie schlagen sie vor, Schiedsrichter in der Aus- und Weiterbildung mittels virtueller Realität zu sensibilisieren und ihnen so Strategien zur Überwindung des sozialen Drucks an die Hand zu geben. „Die Virtual Reality ermöglicht es Benutzern und Benutzerinnen über ein Headset in eine sehr erlebnisnahe digitale Umgebung einzutauchen. Die Technologie erfreut sich zunehmender Beliebtheit, ob in der Unterhaltung, der Bildung oder der Medizin. Warum sollte man sie also nicht auch nutzen, um Schiedsrichter auf Spiele mit mehreren zehntausend Fans realistisch und systematisch vorzubereiten?“ sagen die Psychologen.

Foto: v.l. Michael Leitner und Fabio Richlan | © Kolarik

Publikation:

Leitner M.C. & Richlan F. (2021). No fans – No pressure: Referees in professional football during the COVID-19 pandemic. Frontiers in Active Living – Movement Science and Sport Psychology 3: 720488. https://doi.org/10.3389/fspor.2021.720488

Kontakt:

Michael Leitner, Dipl.-Ing. (FH) Dr. Centre for Cognitive Neuroscience (CCNS)/Fachbereich Psychologie

Paris Lodron Universität Salzburg (PLUS)

Hellbrunnerstrasse 34 | A-5020 Salzburg

A-5020 Salzburg | Tel.: +43 662 8044 – 5170 | Mob.: +43 664 5245263 | E-Mail:

 

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