Pressemeldungen

Mein süßes, liebstes Herz

Historikerinnen aus Wien und Salzburg lesen tausende Liebesbriefe aus dem 19. und 20. Jahrhundert: Sie entwerfen eine Gesellschafts- und Kulturgeschichte aus der Sicht von Liebenden.

Die Historikerin Ingrid Bauer von der Universität Salzburg untersucht Liebesbriefe aus zwei Jahrhunderten | © Kolarik

Wann spricht man von einem Liebesbrief? Laut Duden des 19. Jahrhunderts erklärt man seine Liebe oder zwei versichern sich gegenseitig ihrer Liebe. Hundert Jahre später ist ein Liebesbrief schon weitergehend gefasst: Ein Briefwechsel zwischen zwei Menschen, die liebevoll miteinander verbunden sind, unabhängig vom Inhalt. „Liebe kann sich durch unterschiedliche Themen ausdrücken“, sagt Ingrid Bauer von der Universität Salzburg. Die Historikerin spricht lieber von Paarkorrespondenzen. „Wir haben diesen Begriff für treffender gehalten, weil wir nicht von vorne herein festlegen wollen, was ein Liebesbrief ist.“ Gemeinsam mit Christa Hämmerle von der Universität Wien und einem Team junger Historikerinnen – Barbara Asen, Ines Rebhan Glück und Nina Verheyen – durchforstet Bauer Archivbestände aus der Zeit von 1870 bis in die 1970er Jahre. Ob es sich um schriftliche Zeugnisse heimlicher Affären, Briefe zwischen Verlobten oder Feldpostbriefe von Soldaten an ihre Frauen handelt: Die Historikerinnen wollen anhand dieser Briefe die gesellschaftlichen und kulturellen Änderungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte vollzogen haben, erforschen. Aus den Briefen erfahren sie, wie sich die Selbstwahrnehmungen von Mann und Frau und ihre Erwartungen aneinander verändert haben. Es geht um Macht, Erotik, Sexualität ebenso wie um finanzielle Sicherheit und materiellen Wohlstand. „Uns interessiert dabei das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, welche Spielräume Menschen im Kontext von vorgegebenen Strukturen und Diskursen, in diesem Fall zur Liebe, haben.“

Sexuelle Erlebnisse und Körperlichkeit

„Erstaunlich ist, wie offen Frauen wie Männer mitunter heimliche Sehnsüchte und sexuelle Wünsche mitteilen“, sagt Bauer, und dies nicht erst in neuester Zeit. So gibt es Briefe aus den 30er Jahren die fast pornographisch sind. Besonders in der Feldpost ist das körperliche Verlangen ein wesentliches Thema, Erinnerungen an sexuelle Erlebnisse werden in Einzelfällen ausführlich beschrieben. „Es gab auch überraschend viele außereheliche Beziehungen“, so Bauer. Das reale, gelebte Leben war zu allen Zeiten wesentlich vielfältiger, als es die Normen erlaubt haben. Im 19. Jahrhundert war es vorwiegend das gehobene Bürgertum, das Briefe geschrieben hat und sich über diese kennenlernen konnte. Es ist die Zeit der romantischen Liebe, Beziehungen werden zu einer Herzensangelegenheit. In der bürgerlichen Gesellschaft entwickeln sich Begriffe wie Seelenverwandtschaft, Harmonie und Empfindsamkeit. Das Bild vom Verlieben, Heiraten und bis an das Ende seiner Tage glücklich sein entsteht. In dieser Zeit unterlagen Briefe einer bestimmten Norm. Man benutzte Vorlagen für einen guten Liebesbrief. Auch Brautbriefe waren üblich: Der Brief vom Kennenlernen bis zur Heirat. „Verliebte konnten sich nicht so einfach treffen und Beziehungen wurden zum Teil durch Briefe gelebt“, sagt Bauer. Interessant sei auch wie selbstbewusst Frauen ihre Vorstellungen einer Ehe ausdrücken, indem sie in den Briefen das gemeinsame Heim entwerfen und den Mann vom „Herumschwärmen“ in Vereinen und Lokalen abhalten wollen. Demgegenüber stehe wieder, wie sehr sich Frauen an männliche Lebensentwürfe anpassen sollten. Die Briefschreiber wollen ihre Frauen für die künftige Ehe noch erziehen. In der Zeit der Weltkriege, als die Paare auseinander gerissen werden, kommt es zu einer Briefflut. Gab es bis dahin hauptsächlich Korrespondenzen aus dem bürgerlichen Milieu, finden sich in der Feldpost viele Briefe aus den unteren Schichten, etwa aus dem bäuerlichen Bereich. Eine Frau erzählt was sich im Dorf tut, über Klatsch und Tratsch. Ein Dienstmädchen bemüht sich ihrem Liebsten möglichst viel zu schreiben, obwohl sie eigentlich nichts mehr zu erzählen weiß.

Wandel im Liebesdiskurs der Moderne

Die jüngsten im Projekt erforschten Korrespondenzen entstanden im Kontext der „sexuellen Revolution“. Das verkitschte, romantische Liebeskonzept aus den 50er Jahren wird in der Zeit der 1968er Bewegung und von der Neuen Frauenbewegung hinterfragt. Es beginnt die Zeit neuer Beziehungsformen, man spricht von skeptischer Liebe. In den Briefen werden nun auch stärker Konflikte thematisiert, die Beziehungen werden selbstreflexiv. Partner überlegen, wer bin ich als Mann, als Frau, passen wir überhaupt zueinander. Über Sexualität wird noch offener gesprochen, während Körperlichkeit schon vorher ein häufiges Thema war. Frauen berichten über ihre Menstruation und auch Krankheiten werden – von beiden Seiten – detailliert geschildert. Die Briefe haben die Funktion sich zu zeigen, einen Entwurf von sich selbst und einem gemeinsamen Leben zu entwickeln.

Auf der Suche nach neuem Material

Als Grundlage für ihr Projekt, das vom Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanziert wird, steht den Wissenschaftlerinnen die „Sammlung Frauennachlässe“ am Institut für Geschichte der Uni Wien zur Verfügung. Es enthält tausende Quellen: Tagebücher, autobiographische Dokumente, Fotos und Briefbestände. „Seit einem halben Jahr haben wir die Bestände einer ersten vergleichenden Intensivlektüre unterzogen“, so Bauer. Die Wissenschaftlerinnen suchen auch in vielen anderen Archiven nach Materialien. „Wir hoffen auch auf Briefe aus der Bevölkerung. Viele Menschen haben Briefe ihrer Eltern und Großeltern.“ Die Briefe werden anonymisiert und per Textanalyse-Software für die Interpretation aufbereitet. „Wir haben gesehen, dass die Paare sehr sorgfältig mit den Korrespondenzen umgehen und sie aufbewahren. Sie sollten der Nachwelt erhalten bleiben.“

Kontakt:

Univ.-Prof. Dr. Ingrid Bauer

Institut für Geschichte der Universität Salzburg

Tel: 0662-8044-4734

Liebesbriefe

Liebe und Ökonomie, 1870er-Jahre: die Schreiberin des Briefes – ein mittelloses Kindermädchen und ohne Aussicht eine Mitgift in die Ehe mitbringen zu können – hofft, dass die Eltern des Mannes trotzdem ihre Zustimmung geben.

den 24 Jänner 1874

Lieber Freund!

Meinen innigsten Dank für das Gedicht,

es sind die Gefühle darin enthalten,

die auch ich empfand. (…)

Wenn Sie zu Ihren werthen Eltern kommen

gestehen Sie Alles offen, ich bitte recht sehr,

und nur dann wenn der Elternsegen darauf ruht,

können wir glücklich sein und sagen

Zwei Seelen eine Stube.

Zwei Herzen und ein Dach.

Sie innigliebend

Maria

Liebe, Entfernung und der Brief als Brücke, 1970er Jahre: zeitgleich bereits allmählich durch das regelmäßige Telefongespräch abgelöst, später durch SMS und E-mail.

Eva,

wo bist du? Italien, Graz?

Möchte dich erreichen – kann nicht! Brauche dich –

liebe Dich. (…)

Kopf und Herz voll mit Eva – bin glücklich.

Dich angreifen, spüren, lieben – nicht mehr

schreiben – fühlen, uns…

Ich falle – fang mich auf.

Dein M.

 

Prof Ingrid Bauer. Foto: Andreas Kolarik, 07.12.10