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Germanistin: Dialektschreiben ist im Alltag zur Selbstverständlichkeit geworden

Presseinformation der Paris Lodron Universität Salzburg (PLUS) vom Mittwoch, den 20. Juli 2022

Germanistin: Dialektschreiben ist im Alltag zur Selbstverständlichkeit geworden.

Im Süden des deutschsprachigen Raumes erlebt das Schreiben im Dialekt – insbesondere in den sozialen Medien – einen enormen Aufschwung. Das zeigte die renommierte Schweizer Sprachwissenschaftlerin und Dialektologin Helen Christen vor kurzem in Salzburg beim 7. Kongress der „Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen“ auf. Für Helen Christen ist dies eines der Indizien für die inzwischen breite gesellschaftliche Akzeptanz des Dialektschreibens.

Dialektschreiben ist salonfähig. Es gibt sogar eine Wikipedia auf Bairisch, auf Alemannisch oder in anderen – geschriebenen – Dialekten. Dabei wird aber keineswegs ausschließlich Lokales verhandelt, wie man vermuten könnte. Vielmehr haben die Betreiber den Anspruch, sich inhaltlich nicht einzuschränken, erklärt Helen Christen, emeritierte Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. (Schweiz).

Doch warum gibt es dieses Bemühen um Parallel-Enzyklopädien im Dialekt? „Die Verschriftlichung des Dialekts dient offensichtlich dazu, dem Dialekt Ansehen zu verleihen. Es geht dabei nicht darum, die Standardsprache als Schriftsprache in Frage zu stellen. Vielmehr wird mit Dialekt, der für Sachprosa gebraucht wird, deutlich gemacht, dass dieser in seinen Ausdrucksmöglichkeiten keineswegs eingeschränkt ist. Es geht um Dialektschreiben im Dienste des Dialekts“, so Helen Christen.

Zur Selbstverständlichkeit geworden ist das Dialektschreiben inzwischen in den sozialen Medien. Der geschriebene Dialekt vermittelt dort die Vertrautheit der gesprochenen Sprache, erklärt Helen Christen. Die Assoziationen von Informalität, Nähe und Zugehörigkeit, die gesprochenem Dialekt anhaften, übertragen sich auch auf den getippten Dialekt. „Die Chats haben sich dabei als Wegbereiter einer regionalen Schriftlichkeit erwiesen, wie dies der Germanist Bernhard Kelle bereits vor über 20 Jahren (2000) prognostiziert hat“, so Christen.

Im Süden bzw. Südwesten des deutschsprachigen Raumes ist das Chatten im Dialekt für viele junge Leute eine gängige Schreibalternative, wie Befragungen belegen. In Salzburg zum Beispiel schreiben 6 von 7 Studierenden auch im Dialekt, ähnlich viele sind es zum Beispiel im bairischen Bamberg. Im Norden Deutschlands, etwa in Essen, hingegen schreiben deutlich weniger junge Leute im Dialekt, zumal die meisten ihn auch nicht beherrschen.

Das Dialektschreiben bekommt zudem dadurch zahlenmäßigen Aufwind, dass ganz im Süden Junge nicht bloß enge Vertraute im Dialekt anschreiben, sondern zunehmend auch Vorgesetzte. Da die beruflichen Hierarchien eher eingeebnet werden, wird der Dialekt möglich als Sprachform für SMS und Chats usw. auch mit Vorgesetzten.

Die gesellschaftliche Akzeptanz des Dialektschreibens findet Helen Christen zahlenmäßig auch im Projekt „What’s Up Switzerland“, das Chats aller vier Sprachregionen der Schweiz umfasst, klar bestätigt. Ziel von „What’s Up Switzerland“ ist es, die sprachlichen Merkmale der WhatsApp-Kommunikation zu beschreiben und mit SMS-Nachrichten zu vergleichen. „In Bezug auf das Deutsche zeigt sich eine deutliche Bevorzugung des Schweizerdeutschen gegenüber dem Standarddeutschen. Das Zahlenverhältnis ist 6:1. Eine Befragung bei Studierenden aus Freiburg i. Ü. (Schweiz) und Berufsschüler/innen aus Baden ergibt zudem, dass bloß 7 Prozent der Befragten ausschließlich Hochdeutsch schreiben, alle anderen auch Dialekt.“

Die verschiedenen Beobachtungen zum Boom des Dialektschreibens (in der Schweiz gibt es sogar schon Nachfragen nach einer verbindlichen Dialektorthographie) bewertet Helen Christen nicht nur als Anzeichen für eine zunehmende Gebräuchlichkeit des Dialektschreibens, sondern auch als Indiz für eine „konzeptionelle Zweischriftlichkeit“, die für das informelle Schreiben verbindlich den Dialekt vorsieht.

Vor unseren Augen spielt sich gewissermaßen ein Remake früherer Zeiten ab, als sich im Deutschen erst langsam eine schriftliche Einheitssprache herausbildete. Das war vor einigen Jahrhunderten. Davor schrieb man volkssprachlich – damals: notgedrungen – im Dialekt.

Der 7. Kongress der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) fand von 6.–8. Juli 2022 an der Paris Lodron-Universität Salzburg statt. Das Schwerpunktthema lautete „Dialekte im sozialen Raum. Formen – Verwendungen – Bedeutungen“. Rund 150 Forschende vorwiegend aus dem deutschsprachigen Raum, aber auch aus Belgien, Italien, Finnland, Ungarn, Thailand und den USA stellten ihre Arbeiten vor. Organisiert wurde der Kongress von einem Team um Stephan Elspaß, Andrea Ender u. v. m.

Kontakt:

Univ.-Prof. Dr. Stephan Elspaß

Fachbereich Germanistik

Paris Lodron-Universität Salzburg (PLUS)

Erzabt Klotz Straße 1

5020 Salzburg

Email:

 

Prof. em. Dr. Helen Christen

Germanistische Linguistik

Universität Freiburg/Schweiz

Av. de l’Europe 20

CH-1700 Freiburg

Email: