„Kindermörder Israel“. Zwischen legitimer Israelkritik und antisemitischen Parolen
Im Sommer 2014 lieferten sich Israel und die palästinensische Hamas einen blutigen 50 Tage Krieg. Mit extrem vielen Opfern unter den palästinensischen Kindern. 500 waren es. In Österreich gingen Tausende Menschen gegen die israelische Militäroffensive im Gazastreifen auf die Straße, mit Slogans wie „Kindermörder Israel“. Handelt es sich dabei um eine berechtigte Israel-Kritik oder einen neuen Antisemitismus? Salzburger Historikerinnen haben das zu klären versucht.
Sonntag, 20. Juli 2014: In Wien marschieren mindestens 11.000 Menschen, die Veranstalter sprechen von 30.000 Teilnehmern, durch die Straßen und bekunden lautstark ihre Empörung über die israelische Militäroffensive im Gazastreifen. Es ist die größte Pro-Palästina Demonstration, die es jemals in Österreich gegeben hat. Salzburg, Innsbruck oder Bregenz folgendem Beispiel. Ein großer Teil der Demonstrierenden hat türkischen Migrationshintergrund. Als Muslime identifizieren sie sich mit der Opferrolle der muslimischen Palästinenser. Organisiert wird die Protestkundgebung von der „Union Europäisch-Türkischer Demokraten“, kurz UETD, die der bürgerlich- islamistischen Partei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan nahesteht. Besonders häufig ist bei den Demonstrationen der Slogan „Kindermörder Israel“ zu hören und auf Transparenten zu sehen. In den Reihen der Protestierenden gehen Kinder mit weißer, blutbefleckter Kleidung mit. Blutbefleckte Puppen in rein weißem Gewand werden mitgeführt.
Ist das antisemitisch? Von Antisemitismus spricht man wenn traditionelle antijüdische Stereotype in die Kritik an Israels Politik miteinfließen. In Europa ist Kritik an Israels Politik oft mit der Antisemitismus-Frage verbunden, konstatiert Helga Embacher, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Salzburg. „Die Debatte um den Nahostkonflikt ist enorm emotionalisiert. Auch im wissenschaftlichen Bereich ist sie sehr politisiert. Viele Wissenschaftler nehmen entweder eine pro-israelische oder pro-palästinensische Position ein, oder eine linke, eine rechte, pro-muslimische oder was auch immer. Wir versuchen bewusst differenzierte Definitionen zu finden, die Debatte zu ent-emotionalisieren, auch indem wir sie mit Diskursanalysen und Bildanalysen auf eine wissenschaftliche Ebene heben“.
In dem Zusammenhang haben die beiden Salzburger Jungwissenschaftlerinnen und Antisemitismus-Forscherinnen Bernadette Edtmaier und Alexandra Preitschopf vom Fachbereich Geschichte unter der Projektleitung von Helga Embacher den möglichen antisemitischen Gehalt der „Kindermörder Israel“- Parolen in einer Studie untersucht. Das Ergebnis: Es gibt viele Grauzonen. Eindeutig antisemitisch seien nicht alle Kindermörder – Anschuldigungen, aber sie verfestigen verzerrte Bilder von Israel und Palästina. Israel jedoch vorzuwerfen, gezielt Kinder zu ermorden, ist höchst problematisch, sagen die Forscherinnen.
Fakt ist: Im 3. Gazakrieg von 2014 ist jedes vierte der über 2000 palästinensischen Todesopfer ein Kind. Bei den Israelis sind unter den 67 Toten 9 Kinder.
Edtmaier und Preitschopf haben ihre Studie mit dem Titel „Images of children used in pro-Palestinian activism“ erstmals im Juli 2016 bei der hochkarätigen internationalen Tagung „Children and War: Past and Present“ in Salzburg vorgestellt. Veranstalter der Tagung waren Historiker (Helga Embacher, Albert Lichtblau, Grazia Prontera) und Soziologen (Wolfgang Aschauer) der Universität Salzburg. Mitorganisatoren waren die University of Wolverhampton und die UN (Office of the Special Representative of the Secretary-General for Children and Armed Conflict). Prominenteste Rednerin war die bekannte Juristin Gloria Atiba-Davies, die sich am Internationalen Gerichtshof in Den Haag vorwiegend mit Kriegsverbrechen gegen Frauen und Kinder beschäftigt.
Der Kindermörder-Vorwurf ist seit dem Jahr 2000 in vielen Ländern Europas zu finden. Nicht nur bei Demonstrationen, sondern auch in der Populärkultur, wie Bernadette Edtmaier aufzeigt. In Österreich wird der Vorwurf besonders seit 2010 virulent. Beziehen sich die Anschuldigungen ausschließlich auf die realen Todesopfer oder wird damit auch auf christliche aus dem Mittelalter stammende jüdische Ritualmordlegenden angespielt? Der letztere Fall würde bedeuten, dass in die Israel-Kritik alte antijüdische Stereotype einfließen.
Kern der Ritualmordanschuldigungen war der Vorwurf, Juden würden christliche Kinder stehlen um sie anschließend zu ermorden und mit ihrem Blut rituelle Handlungen zu vollziehen. „Tatsächlich tauchen bei den Pro-Gaza-Demonstrationen in Wien zum Beispiel Transparente auf, die den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu als Vampir zeigen, mit bluttriefendem Mund über ein Kind gebeugt. Diese Sujets beziehen sich relativ eindeutig auf die Ritualmordlegende“, sagt Edtmaier.
Fakt ist, dass Kinder generell gern zu Propagandazwecken instrumentalisiert werden. Mit Kindern lassen sich Emotionen wecken. „Israel wird bezichtigt, palästinensische Kinder absichtlich zu töten. Die Gruppe der Palästinenser wird vielfach mit unschuldigen, schwachen, schutzbedürftigen Kindern assoziiert. Die Problematik des palästinensischen Terrors wird ausgeblendet oder als Akt des Widerstands glorifiziert. Dass die Hamas Kinder als menschliche Schutzschilde opfert, wird nicht angesprochen und dass auch in Israel Kinder sterben zählt nicht“, resümiert Alexandra Preitschopf.
Fazit der Forscherinnen: Dass viele palästinensische Kinder sterben ist tragische Realität. Tatsache ist aber auch, dass ihr Tod teilweise gezielt zur Verbreitung von antisemitischen Ressentiments instrumentalisiert wird.
Alexandra Preitschopf | © PLUS
Univ.-Prof. Dr. Helga Embacher | © PLUS