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Medien und sozial benachteiligte Kinder. Längste Langzeitstudie ist abgeschlossen

Computerspiele spielen, fernsehen, ein YouTube-Star werden wollen. Für Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien haben Medien meist eine sehr wichtige Funktion für die Bewältigung ihres Alltags und können eine Hilfe bei der Identitätsbildung sein. Das ist eine zentrale Erkenntnis, die die Salzburger Kommunikationswissenschaftlerin Ingrid Paus-Hasebrink aus der Mediensozialisationsstudie zieht, die nun nach 12 Jahren abgeschlossen wurde.

Paus-Hasebrink und ihr Team haben 20 (bzw. 18) Kinder vom Kindergarten- bis zum jungen Erwachsenenalter in deren Familien begleitet. Es ist die weltweit längste derartige Studie.

Erich (Name geändert) wächst unter finanziell und sozial prekären Verhältnissen bei seiner alleinerziehenden Mutter auf, die ihm jeglichen Kontakt zu den (Migranten-) Kindern aus der Nachbarschaft verbietet. Auf sich allein gestellt, wird das Fernsehen zum verlässlichen Partner des hyperaktiven Buben bzw. Burschen, dazu kommt exzessives Computerspielen, vorzugsweise Ego-Shooter.

Ob Erich, Manfred, Benedikt, Timo oder Simone (wie die Buben und Mädchen in der Studie genannt wurden, sie sind anonymisiert), eines haben fast alle Kinder aus Problemfamilien gemeinsam: sie nutzen Medien meist extrem intensiv. Das hat die Kommunikationswissenschaftlerin Univ.-Prof. Dr. Ingrid Paus-Hasebrink von der Universität Salzburg in ihrer qualitativen Langzeitstudie zur Mediensozialisation sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher in Österreich festgestellt.

Von 2005 bis 2017 hat Paus-Hasebrink mit ihrem Team 20 (zuletzt 18) Buben und Mädchen im Alter von 5 bis 17 Jahren aus Salzburg und Oberösterreich in deren Familien (und zweitweise in betreuten Wohneinrichtungen oder im Heim) begleitet. „Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien nutzen Medien durchschnittlich häufiger als Kinder aus sozial besser gestellten Familien. Das zeigt der Vergleich meiner Studie mit vielen anderen Studien aus demselben Zeitraum wie zum Beispiel der EU Kids Online Studie.

Was außerdem auffällt sind große Unterschiede im Erziehungsverhalten der Eltern. Während Familien aus besseren sozialen Milieus bei der Medienerziehung vorwiegend kinderorientiert agieren, herrscht bei sozial benachteiligten Familien, meist aus Überforderung, der Erziehungsstil des Laissez- faire und der Resignation vor.“

Die starke Mediennutzung der Kinder zu verteufeln, hält Paus-Hasebrink aber für den falschen Ansatz. „Die Medien sind nicht das eigentliche Problem, dieses liegt vielmehr in den schwierigen lebensweltlichen Bedingungen der Kinder, sozioökonomisch und sozioemotional. Soziale Benachteiligung ist zudem auch oft mit gesundheitlichen Problemen verbunden. Kinder suchen sich aus den Medien gezielt das aus, was ihnen hilft, den Alltag besser zu bewältigen. Ob zum Abbau von Frust und aufgestauten Aggressionen oder als Gegenentwurf zu ihrer Welt.“ 

Und Paus-Hasebrink nennt Beispiele.  „Die einen vernichten in einem Gewaltcomputerspiel einen Feind und fühlen sich so wenigstens virtuell einmal als Sieger, andere wählen Siegertypen zu ihren Helden und Vorbildern – früher war das oft Hermann Maier, auch Jörg Haider gehörte dazu, wieder andere orientieren sich an erfolgreichen YouTube-Stars und erträumen sich eine ähnliche Zukunft. Ich möchte betonen: Wir reden hier nicht über gut oder schlecht, sondern über das was ist.“

Problemfamilien in Medienkompetenz zu schulen, hält Paus-Hasebrink folglich für zu kurz gegriffen. „Wenn man etwas zum Besseren verändern will, braucht es ein umfassendes Netzwerk mit sozialpädagogischer Familienhilfe und Fördereinrichtungen. Es ist zu einfach zu sagen, Kinder aus Problemfamilien sitzen zu viel vor dem Fernseher, spielen zu viele Gewaltcomputerspiele oder sind zu viel im Internet. Weg vom Fernseher und die Probleme sind weg –  so simpel funktioniert das nicht. Ein Schritt in die richtige Richtung ist jedenfalls die Einführung des gratis Kindergartenjahrs.“

Auf der Basis der Studienergebnisse hat Paus-Hasebrink vier Typen von sozial benachteiligten Familien gebildet. Ein positiver Typ ist die „Aufsteigerfamilie“. Den Aufstieg schaffen nach Paus-Hasebrinks Beobachtungen diejenigen Familien, bei denen es neben einer sozioökonomischen Stabilisierung vor allem auch zu einer Stabilisierung in den persönlichen Beziehungen kommt. Erich hatte zum Beispiel dieses Glück. Seine Familie wurde zu einer Aufsteigerfamilie. Im neuen Partner seiner Mutter fand der Bursche einen Stiefvater, der seine – Erichs – exzessive Mediennutzung mit gemeinsamen sportlichen Aktivitäten ausglich.

Die Studie wurde am 28. Februar 2017 abgeschlossen. Sie ist mit ihren tiefblickenden, miteinander verknüpften Ergebnissen einmalig, sagt Paus- Hasebrink. „Üblicherweise fragt man bei solchen Studien ausschließlich nach der Mediennutzung. Ich hatte die Studie aber von vornherein so angelegt, dass es gleichzeitig Familienforschung sein muss, wenn man Mediensozialisationsforschung betreiben will. Je mehr ich geforscht habe, desto weniger sind die Medien im Mittelpunkt gestanden.“

Paus-Hasebrink versteht ihre Forschung als engagierte Sozialforschung im Sinne von Norbert Elias. Die Kommunikationswissenschaftlerin will mehr Bewusstsein schaffen für die Belange und Bedürfnisse sozial benachteiligter Kinder und deren schlechte Startbedingungen verbessern helfen.

Da das Interesse an der Studie international sehr groß ist, soll in Kürze ein Buch in englischer Sprache erscheinen. 

Foto: Ingrid Paus-Hasebrink | © Kolarik