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Warum Kinderarmut ungerecht ist

Philosophen der Universität Salzburg beleuchten das Problem erstmals aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht.

Kinderarmut wird meist unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Die  Salzburger Philosophen Gunter Graf und Gottfried Schweiger vom Zentrum für Ethik und Armutsforschung wählen hingegen eine wesentlich breitere Perspektive. Sie werfen erstmals einen philosophischen Blick auf das Problem und analysieren Kinderarmut aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht. Am Dienstag, 24. November präsentieren sie nun mit ihrem Buch „Kinderarmut und soziale Gerechtigkeit“ die Ergebnisse.

Das Buch ist im Rahmen des internationalen Netzwerks „Kindheit und Philosophie“ entstanden. Dieses Netzwerk mit interdisziplinären Projekten und PartnerInnen aus mehreren Ländern besteht seit 2014 und wird vom Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg koordiniert.  Kinderarmut ist ein Forschungsschwerpunkt des Zentrums. „Es gibt zwar eine kontinuierlich wachsende Literatur sowohl zu Kindheit als auch zu Armut im Allgemeinen, aber als eigenständiges Phänomen wurde Kinderarmut bisher noch nie aus philosophischer Perspektive untersucht. Unser Buch ist die erste systematische Abhandlung über Kinderarmut aus einem philosophischen Blickwinkel“,  sagt Gottfried Schweiger.

Wenige materielle Ressourcen, soziale Ausgrenzung, geringes Bildungsniveau , schlechter Gesundheitszustand, niedrige Lebenserwartung. Weltweit lebt fast eine Milliarde Kinder in Armut. In der EU ist jedes fünfte Kind armutsgefährdet. Und die Zahlen sind in den letzten Jahren laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung gestiegen. Gunter Graf und Gottfried Schweiger vom Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg kritisieren, dass beim Thema Kinderarmut meist auf monetäre Aspekte fokusiert wird, ein Ansatz, der ihrer Meinung nach zu kurz greift. Gunter Graf: „Natürlich ist die materielle Armutsgefährdungsgrenze, die zum Beispiel in Österreich mit 1160 Euro monatlich definiert wird, ein Hinweis auf Armut. Was zählt, sind aber nicht allein die Zahlen. Es geht vor allem auch um die immateriellen Hürden, die das Wohlergehen und weitere Fortkommen der in Armut aufwachsenden Kinder behindern. Eine  wichtige Frage ist auch, welchen Akteuren die Verantwortung für Armutslinderung zugeschrieben werden kann. Wir wollen keine neue Definition von Armut geben, sondern uns interessiert die Kinderarmut unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit.“

Die Salzburger Philosophen gehen in ihrer  Arbeit vom  sogenannten „Fähigkeiten-Ansatz“ (Capability Approach) aus, der vom Wirtschafts-Nobelpreisträger Amartya Sen und der Moralphilosophin Martha Nussbaum entwickelt wurde. Im Kern dieses Konzepts steht die Forderung, dass jeder Mensch die Chance auf ein gutes und gelingendes Leben haben soll. Materielle Güter sind dafür nur ein – wenn auch wesentliches – Mittel.  Viel mehr geht es  aber um die Befähigungen, über die ein Mensch verfügen muss, damit er ein erfolgreiches Leben gestalten kann.

Gottfried Schweiger:  „Gerecht ist eine Gesellschaft dann, wenn sie Kindern ein Bündel von Fähigkeiten zur Verfügung stellt, mit denen Kinder Dinge tun können, die für ihr momentanes oder zukünftiges Wohlergehen wichtig sind. Vier Aspekte sind da von besonderer Bedeutung: physische und psychische Gesundheit,  Zugang zu Bildung, soziale Inklusion und positive Selbstverhältnisse.“   Zu den positiven Selbstverhältnissen gehören Selbstvertrauen, Selbstachtung und vor allem die sogenannte Selbstwirksamkeit, also die Erfahrung von Menschen, dass sie selber etwas bewirken können und handlungsfähig  sind.  „Die Frage ist nun: Inwieweit verletzt Armut diese Dinge, die Kindern zustehen? Wie sehr schränkt Kinderarmut die Betroffenen ein, die Fähigkeiten zu erreichen, die ihr Wohergehen gewährleisten? Der Mangel an Fähgkeiten ist der Kern der Ungerechtigkeit von Kinderarmut.“

Dem mitunter vorgebrachten Einwand, dass eine schwere Kindheit in Armut und instabilen Familienverhältnissen nicht nur negative Spätfolgen hat, sondern – notgedrungen – manchmal besonders widerstandsfähig macht, hält Schweiger entgegen, dass immer im Vordergrund stehen muss, wie es dem Kind als Kind geht. „ Wir wollen mit unserem Projekt wichtige Impulse für die Armutsforschung liefern“, sagen die Salzburger Philosophen. Derzeit liegt der Schwerpunkt ihrer Forschung auf modernen Wohlfahrtsstaaten. Das Buch ist durch eine Förderung des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF auch open access erschienen.

Buchpräsentation:
Wann: Dienstag 24. November,  16.30 – 18.30 Uhr
Wo: Edmundsburg, Mönchsberg 2, 5020 Salzburg
Programm:
16.30 Uhr Einführung durch die Autoren
17.00 Uhr Kommentare zum Buch von den PhilosophInnen Ursula Betzler (München), Johannes Drerup (Koblenz-Landau), Christian Neuhäuser (Dortmund)
18.00 Uhr Replik der Autoren  

Foto: Edmundsburg | © PLUS

Dr. Gottfried Schweiger
Fachbereich Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät
Universität Salzburg
Franziskanergasse 1
Tel: 8044 2570

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