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Unbekannter Text aus der lateinischen Spätantike

In einem spätantiken Codex der Biblioteca Ambrosiana in Mailand gelang eine sensationelle Entdeckung. Clemens Weidmann, ein Mitarbeiter des Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum (CSEL) am FB Altertumswissenschaften, konnte einen im 6. Jh. niedergeschriebenen Text als lateinische Übersetzung griechischer Predigten identifizieren, die wohl in Mesopotamien gehalten worden waren und eine von der Orthodoxie abweichende Lehre vertraten. Diese Predigten wurden nur deswegen überliefert, weil sie fälschlich dem „unverdächtigen“ ägyptischen Mönchsvater Makarios zugeschrieben wurden. Bisher war lediglich der griechische Text bekannt, und zwar nur aus ca. 500 Jahre jüngeren Handschriften, weshalb die neu gefundene lateinische Fassung das bei weitem älteste erhaltene Dokument des anonymen Predigers darstellt. Sie ist somit nicht nur ein wertvoller Zeuge für die Rezeption des Pseudo-Makarios im Westen, sondern wird auch zur Korrektur des griechischen Texts beitragen.
Am Fachbereich Altertumswissenschaften/Latinistik der Universität Salzburg ist eine der traditionsreichsten Forschungsstellen Österreichs beheimatet: das CSEL, das sich seit über 150 Jahren der Erforschung und Edition der Texte der lateinischen Kirchenschriftsteller widmet. Nachdem das CSEL bereits in den vergangenen Jahren das Œuvre der spätantiken Literatur durch aufsehenerregende Neufunde erweitern konnte – etwa 2012 durch die Entdeckung des verloren geglaubten ältesten lateinischen Evangelien-Kommentars des Bischofs Fortunatian von Aquileia (CSEL 103) oder 2015 durch neu identifizierte Predigten des Bischofs Augustinus (CSEL 101) –, bietet auch der nunmehr geglückte Fund eine spannende Bereicherung für mehrere Wissenschaftszweige.
Die Erschließung des neuen Texts stellt die Forschung vor nicht alltägliche Probleme. Der Text ist nämlich nicht gut lesbar, da er im 9. Jh. mit dem Text der Oden des lateinischen Dichters Horaz überschrieben wurde. So genannte Palimpseste („Recycling-Bücher“) aus jener Zeit sind keine Seltenheit (Schreibmaterial war teuer), ungewöhnlich ist aber, dass ein christlicher Text einem Klassikertext weichen musste. Bekannt sind bisher nur Beispiele in der umgekehrten Richtung, dass klassische Texte einem christlichen Text Platz machen mussten, etwa Ciceros Schrift Über den Staat (De re publica) dem Psalmenkommentar des Augustinus oder die Komödien des Plautus der Bibel.
In Zusammenarbeit mit der Biblioteca Ambrosiana in Mailand wird nun in einem ersten Schritt der gesamte Text unter Einsatz komplexer bildgebender Verfahren entziffert. In weiterer Folge gilt es, den bisher unbekannten lateinischen Text mit dem griechischen zu vergleichen, Fragen zu Sprache, Übersetzungstechnik und zum literatur- sowie kirchengeschichtlichen Hintergrund zu beleuchten und ihn nach den Methoden der Textkritik zu edieren, damit er der Wissenschaft zur Verfügung steht. Geplant ist die Publikation in der Editionsreihe „CSEL“. Erste Ergebnisse aus der Arbeit an dem Neufund werden in diesem Semester in einer Lehrveranstaltung an der Universität Salzburg vorgestellt.
Mehr zu diesem Thema: C. Weidmann: Eine unbekannte lateinische Übersetzung der Predigten des Pseudo-Makarios, Zeitschrift für Antike und Christentum 24/2 (2020), 219-222
Auf dem Bildausschnitt kann man in der zweiten Zeile das berühmte, zum Sprichwort gewordene Carpe diem („Pflücke / Genieße den Tag“) von Horaz erkennen. Darunter befinden sich in größeren Buchstaben (Halbunziale) die Worte:
donec veniat in cor eius ignis cae-
lestis et mundet omnes spinas.
(„bis in sein Herz das himmlische Feuer kommt und alle Dornen reinigt“; H15,53: ἕως ὅτε ἔλθῃ εἰς τὰς καρδίας τῶν ἀνθρώπων πῦρ καὶ ἄρξηται περικαθαίρειν τὰς ἀκάνθας).
Milano, Bibl. Ambr. S.P. II. 29 (olim O. 136 sup.), p. 4 © Biblioteca Ambrosiana, Milano

Bibl. Ambr. S.P. II. 29 (olim O. 136 sup.), p. 4 © Biblioteca Am

Dr. Clemens Weidmann

FB Altertumswissenschaften / Latinistik - CSEL

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