Illustration Geschlechtervielfalt

MINT

Making Sex Revisited – Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive

von Heinz-Jürgen Voß

Einleitung: Situierung der Arbeit im Forschungskontext der Geschlechterforschung

Die Gesellschaftsordnungen moderner westlicher Gesellschaften gehen von dem Vorhandensein ausschließlich zweier Geschlechter beim Menschen aus. Jeder Mensch sei Frau oder Mann. Orientiert wird diese Einteilung an physischen und physiologischen Merkmalen – sie wird mit der Betonung solcher körperlichen Merkmale als ‚natürlich‘ betrachtet, wobei ‚natürlich‘ als Metapher für vorgegeben,unabänderlich herangezogen wird.

Die vorliegende Arbeitent nimmt dieser Bedeutung physischer und physiologischer Merkmale bei der Fundierung dichotomer Geschlechter in modernen westlichen Gesellschaften Relevanz und Ausgangspunkt.Oftmals erfolgen Betrachtungen physischer und physiologischer Merkmale durch biologisch-medizinische Wissenschaften, diese bilden den Fokus der Arbeit.(1)

Physische und physiologische Merkmale, die als geschlechtlichkennzeichnend gelten, werden mit geschlechtlichunterscheidenden Namen, mit geschlechtlichdiversifizierender Kleidung, mit Geschlechtseinträgen in Geburtenregistern und Ausweispapieren unterstrichen. Jeder Mensch lernt, beginnend schon in den ersten Lebensjahren und mehr beiläufig, Menschen anhand äußerlicher Merkmale wie Kleidung, Namen, berufliche Tätigkeiten, Gesten etc. geschlechtlich zu unterscheiden. Die Unsicherheiten,die Kinder in frühen Jahren dabei noch zeigen, werden situativ durch betreuende Personen oder durch die geschlechtlich ‚falsch‘ eingeordneten Personen selbst rasch korrigiert. In späteren Lebensjahren kommen solche Unsicherheiten bei der Geschlechtseinordnung in der Regel nicht mehr oder nur noch sehr selten vor. Gleichwohl muss das äußerlich repräsentierte Geschlecht keinesfalls mit dem sozialisierten Geschlecht und der eigenen Geschlechtsdefinition einer Person übereinstimmen.

Mit der Zuordnung ‚Frau‘ oder ‚Mann‘ sind weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen verbunden. Die Zuordnung hat Einfluss auf Möglichkeiten, die sich der Person in der Gesellschaft bieten; so ist es für Männer noch immer wesentlich leichter, einträgliche und prestigeträchtige Positionen in der Gesellschaft – in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik – zu erlangen, während Frauen in solchen gutdotierten Positionen nur in geringer Zahl anzutreffen sind.(3) Hier wird am augenfälligsten und für sehr viele Menschen spürbar, wie die Bedeutung von Geschlecht in die Verfasstheit der Gesellschaft eingewoben ist. Aber auch in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen wird man unentwegt mit der Relevanz von Geschlecht konfrontiert: Sei es in der medialen Berichterstattung, im Sport, in Kaufhäusern, in der Werbung, an Toilettentüren – zielgruppenspezifisch werden ‚Männer‘ und ‚Frauen‘, ‚Jungen‘ und ‚Mädchen‘ angesprochen.

Die geschlechtsabhängig unterschiedlichen Chancen in der Gesellschaft haben vehemente Kritik erfahren, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Engagierte Frauen – und einige Männer – wandten sich gegen die gesellschaftlichen Beschränkungen, von denen Frauen betroffen waren und sind. Sie forderten gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten für ‚Frau‘ und ‚Mann‘ und erstritten zunächst Zugänge zu gesellschaftlichen Bereichen, so zu den Wissenschaften und zum aktiven und passiven Wahlrecht. Davon ausgehend, wurden Diskriminierungen von Frauen und Gewaltverhältnisse, denen insbesondere Frauen unterlagen und unterliegen, offengelegt, und es wurde und wird für deren Ende gestritten. Ebenso wurde deutlich gemacht, dass auch Männer in der zweigeschlechtlichen Ordnung mit Anforderungen konfrontiert sind, die ihre Möglichkeiten beschränken.(4)

Zu den Debatten und Kämpfen gegen die ungleichen Möglichkeiten von Frauen und Männern gesellten sich seit Ende der 1980er Jahre Erörterungen, die grundsätzliche Kritik an der dichotom geschlechtlichen Ordnung übten. Gebündelt machen diese heute die „Queer-Theorie“ aus. In der Queer-Theorie wurde u.a. die Frage aufgeworfen, wozu die geschlechtliche Einordnung ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ überhaupt nötig sei. Es wurde herausgestellt, dass nicht alle Menschen nach der Geburt eindeutig einem der zwei Geschlechter – ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ – zuzuordnen sind, dass es vielmehr auch Menschen uneindeutigen Geschlechts– ‚Intersexuelle‘(5) – gibt, die erst nach genaueren medizinischen Untersuchungen und Behandlungen in die dichotome Ordnung eingefügt werden können – nach Prozeduren (vgl. Kapitel II, S.188ff), die von den Betroffenen oftmals rückblickend als gewaltvoll und traumatisierend beschrieben werden. Herausgestellt wurde ebenfalls, dass Menschen, die das Ablegen der Geschlechterrolle, in der sie sozialisiert wurden, auch in ihrem Vornamen, im Geburtenregister und in Ausweispapieren dokumentieren wollten, mit hohen gesetzlichen Hürden konfrontiert waren (und sind). Kritisiert wurde die Institution der Ehe, die sich ausschließlich auf zwei gegengeschlechtliche Partner/innen richtete und oftmals noch richtet und diese gegenüber gleichgeschlechtlichen Paaren, die ihre Gemeinschaft registrieren lassen wollten, privilegierte. Solche für die Geschlechterordnung weitreichenden Fragen der Queer-Theorie, die dichotome Geschlechtlichkeit in Zweifel ziehen, und statt ihrer auf die Individualität jedes Menschenund die Vielfalt von Identitäten und Lebensentwürfen von Menschen verweisen, werden in den Sozial- und Kulturwissenschaften in zunehmendem Maße thematisiert. Diskriminierungen auf Grund dichotomer geschlechtlicher Einordnung werden offengelegt, und es wird ggf. für die Überwindung solcher Diskriminierungen gestritten.(6)

Die Queer-Theorie der Sozial- und Kulturwissenschaften zielt seit den 1970/80er Jahren auch auf die Überwindung der – in früheren feministischen Theorien vorgenommenen – Einteilung von Geschlecht in eine als gesellschaftlich konstruiert erweisbare Geschlechtsidentität gender und ein, als (mit der Geburt) gegeben angenommenes, biologisches Geschlecht sex. Feministische Theorien hatten mit Hilfe dieser Aufsplittung gezeigt, dass Geschlechtsidentität in der Gesellschaft unabhängig von einer biologischen Bestimmtheit existiert, dass sex also nicht genutzt werden kann, um Rollenverhalten, Bevorzugungen und Benachteiligungen abzuleiten.(7)

Durch die Unterscheidung von gender und sex wurde es möglich, auch ohne vordergründige Sicht auf das vermeintlich feste biologische Geschlecht sex gegen die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen zu streiten. Andererseits hielten solche feministischen Theorien daran fest, dass das biologische Geschlecht sex ‚natürlich‘ vorgegeben sei. Die – ebenfalls feministische – Queer-Theorie überwindet diese Schranke. Sie stellt dar, dass sowohl gender als auch sex gesellschaftlich erzeugt werden. Erst durch Sprache, Diskurse, gesellschaftlich geprägte Interpretationen werden Merkmale von Körpern, wird sex, geschlechtlich gedeutetund durch eingeschliffene Rituale des Alltagslebens verfestigt. Die Queer-Theorie nimmt auch naturphilosophische und biologisch-medizinische Geschlechtertheorien vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Geschlechterordnung(en) in den Blick.(8)

Die feministischen Interventionen finden vermehrt auch in biologischmedizinischen Wissenschaften Widerhall; auch dort zeigen sich Revisionen in den Geschlechtertheorien. So werden bspw. in aktuellen genetischen Theorien der Geschlechtsentwicklung auch für die Ausbildung eines weiblichen Embryos aktive Entwicklungsschritte beschrieben. Dies war zuvor, bis in die 1980/90er Jahre, nicht – zumindest nicht dominant – der Fall. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde weibliche Entwicklung in genetischen Theorien als ohne aktive Entwicklungsschritte erfolgend, der männlichen Entwicklung vorausgehend beschrieben. Männliche Entwicklung sollte eine an aktive Entwicklungsschritte gebundene Fortentwicklung der weiblichen darstellen (vgl. Kapitel III). Deutlich wird hier, wie gesellschaftliche Vorannahmen – der Vorrangstellung des Mannes gegenüber der Frau – den Fokus biologisch-medizinischer Wissenschaft prägen und wie sich die Sichtweise, angeregt insbesondere durch feministische Naturwissenschaftskritik, ändern kann. Bemerkenswerte sozial- und kulturwissenschaftliche Arbeiten, in denen die gesellschaftliche Prägung historischer naturphilosophischer und biologischmedizinischer Geschlechtertheorien herausgearbeitet wird, legten T. Laqueur(9) (1986; 2003 [1990]), C. Honegger (1991) und L. Schiebinger(1986; 1993 [1989]) (10) vor. Laqueur formulierte ein „Ein-Geschlechter-Modell“, das in der Antike und bis in die Renaissance gewirkt habe, und unterschied es von einem „Zwei-Geschlechter-Modell“ moderner biologisch-medizinischer Wissenschaften.

(1) Vgl. zur Bedeutung der ‚Naturalisierung‘ bei der Genese von Geschlechterdifferenz: Hirschauer, 1994 S.681/682.

(2) U.a. Garfinkel, 2007 (1967) S.116185,insbesondere S.122128;Kessler, 1985 (1978) S.59, 142-163; Hagemann-White,1984; Hirschauer, 1994 S.675-679; Hirschauer, 2001.

(3) U.a. Beauvoir, 1989 (1949); Hagemann-White, 1984; Hirschauer,1994; Meuser, 2004.

(4) Zu Männern und Männlichkeit bildet sich seit einigen Jahren eine Forschungsrichtung heraus, bemerkenswerte und für die Betrachtungen dieser Arbeit nützliche Schriften sind u.a.: Bauer, 2007; Kucklick, 2008.

(5) Zur Begriffsdefinition und verwendung:‚Hermaphroditismus‘ bezeichnet Menschen mit sowohl männlichen als auch weiblichen physischen, physiologischen, psychischen und sozialen/kulturellen Geschlechtsmerkmalen. Als gebräuchliche Bezeichnung wurde ‚Hermaphrodit‘ benutzt, was beinhaltete, dass ein Mensch sowohl als Geschlechtsmerkmale von beiden Geschlechtern tragend als auch zwischen zwei Geschlechtern stehend verstanden werden konnte. Heute ist ‚intersexuell‘ gebräuchlich, was einen stärkeren Fokus auf eine Verortung zwischen zwei Geschlechtern (engl., intersexual) legt. Die Begriffe ‚Intersex‘ und ‚Intersexualität‘ wurden 1915/1916 von R. Goldschmidt begründet, um uneindeutige phänotypische Erscheinungen zu bezeichnen, die chromosomal allerdings einem eindeutigen Geschlecht – weiblich oder männlich – zuzuordnen seien [Goldschmidt, 1916a S.54; Goldschmidt, 1916b S.6]. Ergänzend verwendete Goldschmidt den Begriff ‚Hermaphroditismus‘ für Individuen, bei denen in einem Körper sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtszellen, also sowohl Ei-, als auch Samenzellen, aufträten [Goldschmidt,1920 S.159/160; 159-185]. In dieser Arbeit wird ‚Hermaphroditismus‘ als allgemeiner Begriff verwendet, nur für chromosomale Erklärungen im Sinne Goldschmidts werden ‚Intersexualität‘ und ‚Intersex‘ herangezogen, und es wird – da freie, gewählte Selbstbezeichnung – auch beider IntersexuellenBewegung ab den 1990er Jahren die Begrifflichkeit intersexuell‘ verwendet.

(6) Vgl. einführend u.a.: Jagose, 2001; Woltersdorff, 2003; Voß, 2005.

(7) Raymond, 1979; McIntosh, 1991; Nicholson, 1994. In der Medizin wurde die Auftrennung in sex und gender in den 1950er Jahren vorgeschlagen, vgl.: Money, 1955a; Money,1955b; Money, 1957.

(8) Vgl. Butler, 1997 (1993) S.13-49, 305-332; Butler, 1991 (1990);vgl. für eine Einordnung: Angerer, 1999; Krüger-Fürhoff, 2005u.a. S.70/71.9 Zur Begründung der Abkürzung von Vornamen vgl. S.30f dieser Einleitung.

Auszug aus: Voß, Heinz-Jürgen (2015) Making Sex Revisited – Dekonstruktion des Geschlechts aus biologischmedizinischer Perspektive, transcript Verlag.

Volltext abrufbar unter  www.transcript-verlag.de/978-3-8376-1329-2/making-sex-revisited/

 

Illustration Reagenzgläser

 

Weitere Quellen zu MINT

› Ainsworth, Claire (2015) „Sex Redefined“, Nature 518, S. 288-291.

Sex can be much more complicated than it at first seems. According to the simple scenario, the presence or absence of a Y chromosome is what counts: with it, you are male, and without it, you are female. But doctors have long knownthat some people straddle the boundary — their sex chromosomes say one thing, but their gonads or sexual anatomy say another. Claire Ainsworth provides a concise overview of the evolving views on sex in the fields of genetics, medicine and biology.

 

› Ebeling, Smilla & Schmitz, Siegrid (Hg.) (2006) Geschlechterforschung und Naturwissenschaften –Einführung in ein komplexes Wechselspiel, VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden.

Dieses Buch schließt eine Lücke zwischen der Geschlechterforschungund den Naturwissenschaften. Der erste Teil liefert in anschaulichen Beispielen einen Einstieg in geschlechterperspektivische Analysen der Biologie, Chemie, Mathematik und Physik. Im zweiten Teil werden zentrale Theorien und Begrifflichkeiten der Geschlechterforschung erläutert, die für die Analysen der naturwissenschaftlichen Disziplinen benötigt werden.

 

› Fausto-Sterling, Anne (2020, revised ed.) Sexing the Body – Gender Politics and the Construction of Sexuality, Basic Books.

Why do some people prefer heterosexual love while others fancy the same sex? Is sexual identity biologically determined or a product of convention? In this book, Anne Fausto-Sterling argues that even the most fundamental knowledge about sex is shaped by the culture in which scientific knowledge is produced.

 

› Knoll, Bente und Ratzer, Brigitte (2010) Gender Studiesin den Ingenieurwissenschaften, facultas.

Das Lehrbuch zeigt auf verständliche Weise die Bedeutung von Gender in den Technik- und Ingenieurwissenschaften. Dabei kommen unterschiedlichen Vorstellungen über technische Kreativität von Männern und Frauen ebenso zur Sprache wie die historische Entwicklung des Ingenieurberufes, die Wahlmöglichkeiten und soziale Formbarkeit in der Technikentwicklung und die Strategien, die hinter den aktuellen Bemühungen um eine Steigerung des Frauenanteils in den Ingenieurausbildungen stehen.

 

› Koreuber, Mechthild (Hg.) (2010) Geschlechterforschungin Mathematik und Informatik: eine (inter)disziplinäre Herausforderung, Nomos.

Warum tun sich Mathematik und Informatik so schwer, Frauen als Wissenschaftlerinnen zu gewinnen und als Lehrende und Forschende zu halten? Kann von einem „freiwilligen Ausstieg“ von Frauen aus diesen Disziplinen gesprochen werden? Neuere Forschungen zeigen, dass Fragen nach dem Geschlecht das Verhältnis von gesellschaftlicher Praxis und Fachidentität aufwerfen. Immer noch gelten Mathematik und Informatik in aller Regel als geschlechtsneutral. Dies stellen die interdisziplinären Beiträge dieses Bandes gründlich in Frage, indem sie nachweisen, inwiefern mathematische und informatische Texte als Produkte eines nicht nur fachlichen Kontextes zu lesen sind.

 

› Spiel, Katta (2021) “‘Why are they all obsessed with Gender?’ — (Non)binary Navigations through Technological Infrastructures”, Designing Interactive Systems Conference 2021 (DIS ’21), June 28-July 2, 2021, Virtual Event, USA.

Gender is encoded in multiple technological infrastructures, most prominently in digital forms across educational, commercial, medical and governmental contexts. To illustrate the pervasiveness of (binary) gender ideologies and the impact this can have on non-binary individuals – like the author – encountering them, the author conducted an autoethnography. For more than a year they documented systems that did not allow them to register their gender correctly. The findings indicate how technological infrastructures predominantly encode gender as a fixed, immutable and static binary variable with limited options for non-binary people to adequately register self-determined choices for gender and/or (gendered) titles.

 

Alle Texte sind online oder über  UB Search zugänglich.