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Die gestohlene Kindheit

Emotionale Kälte, Ausbeutung, psychische und körperliche Misshandlungen und Missbrauch – Jahrzehnte lang schwiegen Betroffene über die schrecklichen Kindheitserlebnisse. Historikerinnen und Historiker des Fachbereichs Geschichte an der Universität Salzburg beleuchten nun dunkle Erfahrungen jener von der Fürsorge beaufsichtigten Salzburger Kinder, die von der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre in Erziehungsheimen und auf Pflegeplätzen untergebracht waren.

„Abgestempelt und ausgeliefert“, so der Titel einer kürzlich veröffentlichten Studie, die nicht nur die Stimmen jener Opfer sammelt, die als Kinder Leid und Gewalt erfahren mussten. Die Salzburger Universitätsprofessorin und Studienautorin Ingrid Bauer verdeutlicht: „Wir haben das hinter einer vielfach menschenverachtenden Praxis stehende System untersucht und auch das Zusammenwirken von Jugendämtern, heilpädagogischen Einrichtungen, Jugendgerichten sowie die engen Normen der Gesellschaft analysiert.“

Fremdunterbringung „im Namen der Ordnung“Der Schutz von Kindern und Jugendlichen im Fall einer außerfamiliären Unterbringung ist heute für die Jugendwohlfahrtspflege zentrales Entscheidungskriterium. „Anders nach 1945. Kinder wurden schon bei ´Erziehungsschwierigkeiten` oder ´Verwahrlosungserscheinungen` aus ihren eigenen Familien genommen“, verdeutlicht Universitätsprofessor i.R. und Studienautor Robert Hoffmann. „Vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen wurden in Erziehungsheimen oder auf Pflegestellen untergebracht. Dort begannen für sie Jahre voller traumatischer Erlebnisse, die bis in ihr heutiges Leben nachwirken“, ergänzt Historikerin Christina Kubek von der Universität Salzburg, die ebenfalls an der Studie mitwirkte.Übergriffe auf Leib und SeeleNiemand wurde auf die sogenannte „Kindesabnahme“ vorbereitet, wie Herr L., ein Betroffener, schildert: „Mich haben zwei von der Fürsorge geholt. Die Mama hat gearbeitet und hat nichts davon gewusst.“ Frau S. wurde als Sechsjährige unter falschem Vorwand von einer Fürsorgerin abgeholt: „Ich kann mich noch genau erinnern, dass sie mich im Kindergarten gefragt hat, ob ich in die Stadt fahren will.“ Oft wurde den Eltern ihr Aufenthaltsort verschwiegen. Der tragische Alltag der Kinder spielte sich hinter versperrten Türen, vergitterten Fenstern und hohen Mauern ab.

Die Salzburger Historikerinnen und der Historiker fanden heraus, dass demütigende Strafen verhängt wurden, entsprach das Verhalten der „Zöglinge“ nicht den Vorstellungen der Erziehenden. So berichtet Frau N.: „Einmal durfte ich meine Mutter nicht sehen, da war ich im ´Besinnungskammerl´. Sie stand unten, mich hat oben eine Schwester festgehalten. Ich habe sie gehört, durfte aber nicht zu ihr.“ Über einen „lieben Bub, einen Ungar, der vom Außendienst als Hilfsarbeiter einer Firma zurückkam“, berichtet Herr L. „Der Aufseher H. hat immer so einen großen Schlüsselbund mitgehabt. Der Bub hat irgendwas zu ihm gesagt und H. hat ihm damit den Schädel zertrümmert. Überall Blut. Wir haben nie wieder von ihm gehört.“ Ständige Beschäftigung sollte verhindern, Zeit für „unerwünschtes, nicht konformes Verhalten“ zu finden. „Ich habe geputzt und im Garten gearbeitet. Geld habe ich nie dafür bekommen“, so Frau A., die noch Mitte der 1980er Jahre in einem Heim untergebracht war und als billige Arbeitskraft an einen privaten Haushalt „verliehen“ wurde. Freundschaften unter den Kindern wurden verhindert, „damit ja niemand aufmüpfig wird. Alles wurde sofort im Keim erstickt“, schildert Frau S. Emotionale und körperliche Nähe wurde untersagt – die „Kameradinnen“ durften sich gegenseitig auch nicht trösten.

Um als Gruppe stark aufzutreten, bildeten sich Zweckgemeinschaften, erinnert sich Herr Z.: „Wenn wer was angestellt hat, wurde das natürlich abgestritten. Weil wir Angst hatten, wieder bestraft zu werden. Natürlich haben wir da zusammengeholfen.“ Persönliche Briefe wurden zensiert, erzählt Frau N.: „Meine Mutter hat heute noch Briefe, wo das, was ihnen nicht gepasst hat, so lange schwarz durchgestrichen wurde, bis es nicht mehr leserlich war.“„Fürsorgeerziehung“ in SalzburgDas damalige System der Jugendfürsorge sanktionierte und grenzte aus. Sein deklariertes Ziel war eine reibungslose Anpassung an gesellschaftliche Normen und Erwartungen. Zwischen 1950 und 1970 waren im Bundesland Salzburg jährlich bis zu 1.500 Kinder und Jugendliche von einer im Jugendwohlfahrtsgesetz von 1954 vorgesehenen Maßnahmen betroffen. Demnach wäre es Aufgabe der Behörden gewesen, die „zur körperlichen, geistigen, seelischen und sittlichen Entwicklung der Minderjährigen notwendige Fürsorge“ zu gewährleisten. Verhindert wurde dies aber durch den drastischen Mangel an Einrichtungen und Personal sowie das Versagen notwendiger Kontrolle. Die „Zustände“ waren den Verantwortlichen sehr wohl bewusst. So wird in zeitgenössischen Dokumenten von „kaum jemals wieder gutzumachenden Schäden durch Sittlichkeitsvergehen und Schändungen auf dem Lande“ sowie von „Ausnutzung zu Geschäftszwecken in Gast- und Fremdenverkehrsbetrieben“ und „billigen landwirtschaftlichen Hilfskräften“ gesprochen. Tiefer greifende Reformen setzten erst ab den späten 1970er Jahren ein, als gesellschaftliche Demokratisierungsprozesse den Stellenwert von Kindern, Jugendlichen und ihren Rechten – und langsam auch das System der alten Jugendfürsorge – veränderten.

Wir glauben euch!

„Es wird dir niemand glauben“, wurde den Kindern und Jugendlichen einst eingetrichtert. Die Entscheidung, jetzt über ihre leid- und gewaltvollen Erfahrungen zu berichten, verbanden die Betroffenen mit der Hoffnung, sich durch eine wissenschaftliche Studie endlich Gehör zu verschaffen. Zu Recht fordern sie eine angemessene Übernahme der gesellschaftlichen Verantwortung für das erlittene Unrecht ein: „Ich will, dass andere auch sagen, dass das nicht in Ordnung war.“ Von 2010 bis 2012 führten Ingrid Bauer, Robert Hoffmann und Christina Kubek im Auftrag des Landes Salzburg Interviews mit Betroffenen und Verantwortlichen aus dem Jugendwohlfahrtssystem. Das Autorenteam sichtete tausende Fürsorgeakten und wertete umfangreiche amtliche Statistiken aus. Die vorliegende Studie ist mehr als eine Untersuchung zum Komplex Heim- und Fürsorgeerziehung, geht es darin zugleich um die erste Gesamtdarstellung des Systems der öffentlichen Jugendwohlfahrt nach 1945 auf der Ebene eines Bundeslandes.

Bauer, Ingrid/Hoffmann, Robert/Kubek, Christina: Abgestempelt und Ausgeliefert. Fürsorgeerziehung und Fremdenunterbringung in Salzburg nach 1945. Mit einem Ausblick auf die Wende hin zur Sozialen Kinder- und Jugendarbeit von heute. StudienVerlag: Innsbruck, Wien, Bozen 2013.

Foto: Prof. Ingrid Bauer, Prof. Robert Hoffmann und Dr. Christina Kubek © Universität Salzburg/Wintersteller

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