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Strong women – Gentle men

– von Anja, Anne, Kati und Nadine
Warum werden Chips und Hunde mit Männern und Schokolade und Katzen mit Frauen assoziiert? Werde ich als Frau, die in ihrer Freizeit boxt und selbstbewusst auftritt, weniger weiblich wahrgenommen? Und warum dürfen Männer eigentlich nicht sensibel sein und weinen? Oder dürfen sie das doch?
Diese und andere Fragen  haben wir uns im Rahmen des Seminars „Sexismus, Feminismus & Ich“ gestellt. Unter dem Motto: „Strong Women – Gentle Men“  haben wir einen Selbstversuch gestartet, in dem wir uns mit geschlechtsbezogenen Stereotypen auseinandergesetzt haben. Wir wollten herausfinden, welche Geschlechterstereotype es gibt, ob wir sie (unbewusst) verwenden und ob wir stereotypes Denken brauchen, um Menschen (besser) einschätzen zu können.

Was sind geschlechtsbezogene Stereotype und woher kommen sie?

Bei geschlechtsbezogenen Stereotypen handelt es sich um verallgemeinerte Annahmen darüber, wie Frauen und Männer sind. Dabei geht es vor allem um Persönlichkeitseigenschaften und charakteristische Merkmale. Zurückzuführen sind diese auf die traditionellen Rollenbilder der beiden Geschlechter (Hentschel, Heilman & Peus, 2019). Die renommierte Gender-Forscherin Alice Eagly entwickelte 1987 die sogenannte soziale Rollentheorie (engl. Social Role Theory; Eagly, 1987). Diese besagt, dass sich Geschlechterstereotype aus der unterschiedlichen Verteilung von Männern und Frauen auf soziale Rollen (sowohl zuhause als auch am Arbeitsplatz) und aus der Beobachtung von Frauen und Männern in ihrer sozialen Rolle, ergeben.
Und welche Beobachtungen haben Menschen bisher gemacht? Frauen haben den größten Teil ihrer Zeit im häuslichen Bereich verbracht und routinemäßige Hausarbeit verrichtet und Kinder großgezogen. In der Arbeitswelt führten Frauen in der Regel eher menschenorientierte Dienstleistungsberufe aus, als Ding- oder wettbewerbsorientierte Berufe, die traditionell von Männern besetzt wurden. Aus der Beobachtung der gegensätzlichen Verteilung von Männern und Frauen in soziale Rollen, werden also Geschlechterstereotype abgeleitet, als sozial geteilte Vorstellungen und Annahmen darüber, wie Männer und Frauen im Generellen und typischerweise sind (Koenig & Eagly, 2014).

Warum nutzen wir stereotypes Denken und warum ist es problematisch?

Stereotype sind gedankliche „shortcuts“. Sie helfen uns dabei, Menschen zu kategorisieren, vereinfachen unsere Beobachtungen und ermöglichen es uns, Vorhersagen über andere Menschen zu treffen (Devine and Sharp, 2009; Fiske and Taylor, 2013). Allerdings sind diese verallgemeinerten Annahmen nicht immer richtig.Wenn Eigenschaften von Gruppen ohne Wenn und Aber auf alle Gruppenmitglieder übertragen werden, kommt es zu Schubladendenken, wobei individuelle Einzigartigkeiten von Personen einfach übersehen werden (Hentschel et al., 2019). Geschlechterstereotype sind von besonderer Bedeutung, da es sich um ein Merkmal handelt, das sehr offensichtlich ist und damit auch einen großen Einfluss auf Personen hat (Fiske, Haslam & Fiske, 1991).
Geschlechterstereotype habe also einen starken Einfluss auf uns und unser Denken über die anderen. Aber was ist an den Stereotypen wirklich dran? Gibt es diesen klaren Unterschied zwischen Männern und Frauen?

Mann vs. Frau – Handlungsorientierung vs. Beziehungsorientierung?

Barrierefreiheit: Kurzbeschreibung des BildesUnsere vorläufige Antwort ist: Ja.
Geschlechterrollen und Stereotype wurden in der wissenschaftlichen Forschung bisher häufig anhand der Konstrukte Handlungsfähigkeit bzw. Handlungsorientierung (engl. agency) und Gemeinschaftlichkeit bzw. Beziehungsorientierung (engl. communality) näher untersucht (z.B. Abele & Wojciszke, 2014; Hentschel et al., 2019). Wenn ein Mensch stark handlungsorientiert ist, dann geht er die Dinge aktiv an. Er hat die Kontrolle, verfügt über Verantwortung und Führungsfähigkeiten, ist durchsetzungsfähig und unabhängig. Wenn ein Mensch stark beziehungsorientiert ist, gilt er als sozial eingestellt. Er bemüht sich darum Beziehungen aufzubauen, geht fürsorglich mit anderen um und verfügt über hohe emotionale Sensitivität. Forschungsergebnisse zeigen, dass die meisten Menschen den “klassischen” Mann als handlungsorientiert und die “klassische” Frau als beziehungsorientiert wahrnehmen und beschreiben. Damit werden Männer eher mit “aktiven” und Frauen eher mit “passiven” Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen assoziiert.Ein Beispiel: Zwei Personen, ein Mann und eine Frau, sind in einer Bar. Sie sitzen an verschiedenen Tischen und sind Fremde füreinander. Eine der beiden Personen wirft der Anderen einen schüchternen Blick zu und lächelt verlegen. Die andBarrierefreiheit: Kurzbeschreibung des Bildesere Person reagiert darauf, indem sie aufsteht, zur Blicke werfenden Person hingeht und sie anspricht. Was hast du angenommen? Welche der Personen ist der Mann und welche die Frau? 

Der Selbstversuch

In unserem Selbstversuch wollten wir testen, inwiefern auch wir in diesen “klassischen” Rollenbildern und Geschlechterstereotypen denken und ob wir diesen klaren Unterschied zwischen Männern und Frauen selbst machen würden. Denn obwohl wir alle vier von uns behaupten würden, relativ reflektiert und bewusst mit dem Thema Geschlecht und Stereotypen umzugehen, sind wir uns auch über das unbewusste und automatisierte Wirken von Stereotypen im Alltag im Klaren.
Nehmen wir fremde Personen anders und unvoreingenommener wahr, wenn wir nicht wissen welches Geschlecht sie haben? Und sind Männer und Frauen wirklich so verschieden im Bezug auf Handlungs- und Beziehungsorientierung?
Um uns und unser eigenes Schubladendenken zu überprüfen, hat jede von uns vier Frauen und vier Männer aus unserem Bekanntenkreis eine DIN-A4 Seite freien Text über sich zu folgenden Fragen verfasst: Barrierefreiheit: Kurzbeschreibung des Bildes
 – Wie würdest du dich als Person beschreiben?
– Was sind deine Vorlieben, Hobbys und Ziele?
– Was deine Abneigungen und Schwächen?

 Die Texte wurden anonym verfasst und es wurden keine Informationen gegeben, die in irgendeiner Weise Rückschlüsse auf das Geschlecht der Person zulassen würden (z.B. Beschreibung des Aussehens). Danach wurden die Texte unter uns acht ausgetauscht. Jede und Jeder las die Texte der anderen und lernte die anderen Personen auf diese Art und Weise ganz anonym kennen. Nachdem jeder Text gelesen wurde, versuchte jeder von uns die anderen Personen, über die wir via Text einiges erfahren hatten, anhand bestimmter Eigenschaften einzuschätzen. Dafür waren in einer Tabelle Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen gelistet, die der Handlungs- oder Beziehungsorientierung zugeordnet waren (im Versuch wurden diese nicht als solche benannt). Die folgende Tabelle zeigt “klassisch” männliche und weibliche Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen (nach Prentice und Carranza, 2002). Rot unterlegte Eigenschaften sind bei Frauen außerdem sozial erwünschter und werden eher erwartet als bei Männern. Die lila hinterlegten Eigenschaften sind hingegen bei Männern sozial erwünschter als bei Frauen.
Es sollten dann diejenigen Begriffe angekreuzt werden, die wir als auf die Person zutreffend empfunden haben.  Zuletzt haben wir versucht, das Geschlecht der Personen, deren anonyme Selbstbeschreibung wir gelesen hatten, zu erraten und waren am Ende wirklich überrascht. Überrascht über das Geschlecht der beschriebenen Personen oder auch über unsere eigene, oder vorschnelle Art andere Menschen in Kategorien einzuteilen.
Nachdem wir die beurteilten Texte zurück getauscht hatten, trafen wir uns wieder und outeten welcher Text von wem geschrieben wurde. Wir reflektierten gemeinsam über unsere Erfahrungen und stellten uns einige Fragen. Die erste Frage war, ob wir Frauen über die Einschätzungen hinweg beziehungsorientierter wahrgenommen wurden und die Männer handlungsorientierter. Also ob wir den klaren und stereotypisierten Unterschied zwischen Männern und Frauen ziehen, obwohl wir nur die anonymen Texte kannten.

1. Werden Frauen beziehungsorientiert wahrgenommen und Männer handlungsorientiert?

Und tatsächlich zeigte sich in unseren anonymen Einschätzungen, dass die Texte von uns Frauen stärker beziehungsorientiert als handlungsorientiert wahrgenommen wurden und die Texte der Männer stärker handlungsorientiert als beziehungsorientiert. Trotzdem zeigte sich deutlich in unseren Einschätzungen, dass jeder Text sowohl eine “klassisch weibliche” als auch eine “klassisch männliche” Seite hatte. Jede/r BeurteilerIn fand in jedem Text sowohl handlungsorientierte als auch beziehungsorientierte Eigenschaften. Teilweise sogar fast gleich viele Eigenschaften! Trotzdem entschieden sich fast alle BeurteilerInnen am Ende für ein festes Geschlecht (Frau oder Mann) und dies war in fast allen Fällen auf die überwiegende Anzahl der Eigenschaften zurückzuführen. Wurden überwiegend beziehungsorientierte Eigenschaften gefunden, wurde entschieden, der Text ist von einer Frau und wenn überwiegend handlungsorientierte Eigenschaften gefunden wurden, entschied die urteilende Person, dass der Text einen Mann beschreibt. Dieses Verhalten war für uns vier eindeutig stereotypenorientiert. Und es überraschte uns sehr, da die Eigenschaften in den Einschätzungsbögen nicht als beziehungs- oder handlungsorientiert gekennzeichnet waren. Wir BeurteilerInnen konnte also nicht auf den ersten Blick erkennen, welche Eigenschaften überwogen. Das stereotype Verhalten fand also bei uns allen unbewusst statt.
Diese Art zu urteilen fanden wir bei uns allen Acht! Aber so zu urteilen führte nicht immer zum “richtigen” Ergebnis. Ein Beispiel: In einem Text, in dem sich eine von uns Frauen selbst beschrieb, fand ein Beurteiler überwiegend handlungsorientierte Eigenschaften. Als Folge wurde die Frau als Mann eingeschätzt. Als das Geschlecht gelüftet wurde, war der Beurteilende sehr überrascht. Dieser Text zeigte zum Beispiel, dass eine Person die überwiegend handlungsorientierte Eigenschaften zeigt, aber trotzdem eine Frau ist, unbewusst als vermeintlicher Rollenbruch wahrgenommen wird. Und dadurch dem anderen Geschlecht zugeordnet wird!
Eine weitere Frage die wir uns nach unserem Experiment gemeinsam stellten war, ob die Einschätzung der Texte abhängig vom Geschlecht der Beurteilenden war.

2. Ist die Einschätzung des Geschlechts der fremden Person abhängig vom eigenen Geschlecht und davon, wie verschieden man sich im Vergleich zur anderen Person wahrnimmt?

Diese Frage stellten wir uns in unserer eigenen Reflexion immer wieder. Haben wir den Textautoren männlich eingeschätzt, weil wir uns selbst nicht in dem Text wiederfanden und somit der logische Schluss sein müsste, dass der Autor ein anderes Geschlecht hat, als wir? Wir mussten diese Frage an vielen Stellen mit ja beantworten. Seien es persönliche Unterschiede, wie die urteilende Person kocht sehr gerne und der Text gibt wieder, dass die andere Person nicht gut oder gerne kocht oder auch Persönlichkeitseigenschaften, wie die urteilende Person ist sehr strukturiert und der Text gibt wieder, dass die andere Person zum Chaos neige. Je unterschiedlicher die im Text beschriebenen Eigenschaften zu den eigenen waren, umso stärker nahm man das andere Geschlecht an!
Außerdem stellten wir fest, dass wir annahmen, dass die Autorin auch weiblich sein muss, wenn wir vier uns in dem gelesenen Text wiederfanden. Diese Annahme überwog in manchen Beurteilungen sogar die Auswertung der beziehungs- oder handlungsorientierten Eigenschaften. Ein Beispiel hierfür ist eine Beurteilerin, die einen Text eindeutig als überwiegend handlungsorient einschätzte. Trotzdem tippte sie am Ende, dass den Text eine Frau geschrieben hatte. Die Beurteilerin reflektierte im nachhinein, dass sie sich selber so sehr in dem Text wiedergefunden hatte, dass sie sich ganz sicher war, dass es sich um eine Frau handelte. Dieses persönliche Zusammengehörigkeitsgefühl überwog also in unserem Experiment das Einschätzen nach “klassischer Mann” – “klassische Frau”. Die klassischen Kategorien wurden durch selbstgewählte, gefühlsmäßige “Schubladen” ersetzt.
Eine letzte Frage, auf die wir in unserer gemeinsamen Reflexion immer wieder stießen war, ob wir einen Wandel der Geschlechterrollen besonders in Bezug auf die Rolle der Frau wahrnehmen konnten.

3. Gibt es einen Wandel der Geschlechterrollen, besonders in der Rolle der Frau?

Barrierefreiheit: Kurzbeschreibung des BildesBarrierefreiheit: Kurzbeschreibung des Bildes
Die aktuelle Literatur zeigt, dass sich die Rollen von Mann und Frau immer ähnlicher werden und auch im alltäglichen Leben mehr und mehr vermischen, dass aber besonders die weibliche Rolle immer mehr Dynamik mit sich bringt (Diekman & Eagly, 2000). Frauen im 21. Jahrhundert übernehmen immer mehr Tätigkeiten des “klassischen” Mannes. Sie sind in der Politik stärker vertreten denn je und zeigen, genauso wie Männer, Gespür für Führungs- und Geschäftssinn. Immer mehr Frauen managen gleichzeitig Haushalt, Kinder und Karriere – sie werden nicht umsonst als “Boss-Mums” bezeichnet. Die moderne Frau ist im Vergleich zu früher viel selbstbewusster und durchsetzungsfähiger.
Die Frage, die sich stellt, ist, ob es bei einer Frau also eher akzeptiert oder vielleicht sogar erwartet wird, dass sie auch “handlungsorientierte” Eigenschaften, wie zum Beispiel Selbstständigkeit und Durchsetzungsfähigkeit aufweist? Diese Annahme des dynamischen Frauenbildes hat sich bei uns, wie bereits vermutet, bestätigt. Männer, die mehr weibliche als männliche Eigenschaften bekommen hatten, wurden eher als weiblich eingestuft, während Frauen, die mehr männliche Eigenschaften hatten, trotzdem als Frau eingeschätzt wurden. Dies verdeutlicht, dass das Bild des Mannes weniger Dynamik mit sich bringt und mit definierteren Erwartungen besetzt ist als das der Frau.

Uns hat sich die Frage gestellt, ob es womöglich alternative Erklärungen für das Zustandekommen unserer Ergebnisse gegeben hat?

Es ist kein Geheimnis, dass wir von unserer Umwelt geformt werden. Zum einen ist die individuelle Einstellung in Bezug auf Geschlechterstereotype immer abhängig von der Umgebung, sprich vom Land und dessen Traditionen, die man vorgelebt bekommt. Zum anderen hat auch das Rollenbild im engen Umkreis, zum Beispiel das in der Familie, in der Nachbarschaft oder Freundschaft einen großen Einfluss auf unsere diesbezügliche Einstellung. 

Ein spezifisches Merkmal, das die Geschlechterauswahl während dem Lesen der Selbstbeschreibungen beeinflusste, war der Schreibstil der Person. Präsentierte sich die Person distanziert und oberflächlich, wurde eher von einem männlichen Geschlecht ausgegangen. Ging die Person in der Selbstbeschreibung eher in die Tiefe und wählte einen emotionalen Stil, wurde sie eher mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert. Ein weiteres Merkmal, das die Auswahl beeinflusste, war der Confirmation Bias. Was bedeutet, dass die Informationen, die man zu Beginn des Textes über die Person erhielt, einen Einfluss auf die Informationen, die gegen Ende des Textes präsentiert wurden hatten. Demzufolge beeinflussten die ersten Sätze und Schlagwörter im Text die Einschätzung über die Person. Wurden beispielsweise zu Beginn Schlagwörter wie “emotional sein”, “Yoga machen” und “kochen” gefunden, wurde unabhängig von den folgenden Informationen eher von einem weiblichen Geschlecht ausgegangen.
Zu Beginn hatten wir verschiedene Fragen aufgeworfen, die wir nun abschließend, anhand der  Erkenntnisse unseres Selbstversuchs, beantworten möchten.

Warum werden Chips und Hunde mit Männern assoziiert und Schokolade und Katzen mit Frauen?

In der Selbstbeschreibung erzählte eine Person von sich, dass sie Katzen lieber als Hunde mag und lieber Schokolade isst als Chips. Für die BeurteilerInnen war klar: das kann nur eine Frau sein. Aber warum? Katzen sind verschmust und wollen kuscheln, Hunde sind wild und wollen draußen herumtollen. Schokolade schmilzt und wird genossen, Chips essen ist eher laut und chaotisch. In den Beschreibungen lassen sich beziehungsorientierte beziehungsweise „weiche“ und handlungsorientierte beziehungsweise „harte“ Eigenschaften erkennen.

Unser Selbstversuch hat uns gezeigt, dass wir bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen, abhängig von ihrer Orientierung, unbewusst in weiblich oder männlich einteilen.

Werde ich als Frau, die gerne boxt und selbstbewusst auftritt weniger weiblich wahrgenommen?

Barrierefreiheit: Kurzbeschreibung des BildesDie Antwort ist: vielleicht.
In unserem Selbstversuch haben wir viele Faktoren gefunden, die das Urteil über das Geschlecht beeinflussen können. Dabei spielt unter anderem das Geschlecht der Beurteilenden eine Rolle, und ob diese sich selbst in dem Text wiederfinden. Wenn man viele Ähnlichkeiten sieht, sich also mit der anderen Person identifizieren kann, nimmt man auch eher das eigene Geschlecht bei der zu beurteilenden Person an.

Und warum dürfen Männer eigentlich nicht sensibel sein und weinen? Oder dürfen sie das doch?

Das klassische Bild der Frau hat sich in den letzten hundert Jahren stark verändert. Durch die drei Wellen des Feminismus haben sich Frauen immer mehr handlungsorientierte Eigenschaften angeeignet. Es ist gesellschaftlich akzeptiert, wenn eine Frau rational, entschlossen und selbstständig ist.
Barrierefreiheit: Kurzbeschreibung des BildesDas Bild des Mannes hingegen ist immer noch sehr traditionell und kommt mit dem Imperativ: „Männer müssen stark sein“. Die Kehrseite davon ist, dass Männer nicht emotional sein „dürfen“. Auch wenn wir der Meinung sind, dass sich das Bild langsam verändert, war die Überraschung über das Geschlecht der AutorInnen wesentlich größer, wenn sich ein Mann als sensibel, ordentlich oder unsicher beschrieben hat. Unser Selbstversuch hat uns gezeigt, dass das Bild des Mannes sich zwar verändert und auflockert, aber noch lange nicht so dynamisch ist wie das Bild der Frau. Es bedarf eines Wandels, der Männern „erlaubt“ auch beziehungsorientierte Eigenschaften mehr zu integrieren, ohne dafür mit negativen Konsequenzen und Urteilen rechnen zu müssen.

Brauchen wir wirklich geschlechtsbezogene Stereotype, um andere besser einschätzen zu können? – Was uns wichtig ist?

Eine Sache, die uns allen bei unserem Selbstversuch bewusst geworden ist, ist wie automatisch man manchmal bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen mit einem Geschlecht verbindet. Das spannende war für uns Texte zu lesen, die gender neutral geschrieben waren und damit geschlechtsbezogene Stereotype eliminieren. Nicht zu wissen welches Geschlecht die Person hat, hat uns die Möglichkeit gegeben, uns unvoreingenommen ein Bild vom Charakter der Person zu machen. Wir fanden die Texte interessant, Menschen sympathisch und wollten die (uns nicht bekannten) Personen kennenlernen, unabhängig vom Geschlecht. Beim Lesen der Texte hatten wir teilweise nicht das Bedürfnis zu urteilen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Erst als wir uns für ein Geschlecht entscheiden mussten kam es zu stereotypischem Denken. Obwohl wir uns alle als relativ reflektiert beschreiben würden, haben wir trotzdem immer wieder mit stereotypischem Denken und unbewusssten Vorurteilen zu kämpfen, die uns ohne die Selbsterfahrung wohl gar nicht so bewusst geworden wären.
Die Selbsterfahrung hat uns gezeigt, dass wir geschlechtsbezogene Stereotype haben, obwohl wir sie nicht brauchen, um Personen kennenzulernen und einzuschätzen. Wir ermuntern euch alle dazu einfach mal inne zu halten, wenn ihr neue Leute kennenlernt und zu überprüfen, ob ihr die Person vor euch gerade wirklich klar seht, oder ob ihr vielleicht doch noch die Stereotypen-Brille tragt, die man so gewohnt ist, dass man manchmal gar nicht mehr bemerkt, wenn man sie trägt.

Literatur

  • Abele, A. E., and Wojciszke, B. (2014). Communal and agentic content in social cognition: a dual perspective model. Adv. Exp. Soc. Psychol., 50, 195–255.
  • Devine, P. G., & Sharp, L. B. (2009). Automaticity and control in stereotyping and prejudice. In T. D. Nelson (Ed.), Handbook of prejudice, stereotyping, and discrimination (p. 61–87). Psychology Press.
  • Diekman, A. B., & Eagly, A. H. (2000). Stereotypes as Dynamic Constructs: Women and Men of the Past, Present, and Future. Personality and Social Psychology Bulletin, 26(10), 1171-1188. https://doi.org/10.1177/0146167200262001​
  • Eagly, A. H. (1987). Sex Differences in Social Behavior: A Social-Role Interpretation. Hillsdale, NJ: Lawrance Erlbaum Associates.
  • Fiske, A. P., Haslam, N., & Fiske, S. T. (1991). Confusing one person with another: What errors reveal about the elementary forms of social relations. Journal of Personality and Social Psychology, 60(5), 656–674. https://doi.org/10.1037/0022-3514.60.5.656
  • Fiske, S. T. , and Taylor, S. E. (2013). Social Cognition: From Brain to Culture. London: Sage. doi: 10.4135/9781446286395
  • Hentschel, T., Heilman, M. E., & Peus, C. V. (2019). The multiple dimensions of gender stereotypes a current look at men’s and women’s characterizations of others and themselves. Frontiers in Psychology, 10, 1-19.
  • Koenig, A. M., and Eagly, A. H. (2014). Evidence for the social role theory of stereotype content: observations of groups’ roles shape stereotypes. J. Pers. Soc. Psychol., 107, 371–392.
  • Prentice, D. A., & Carranza, E. (2002). What women and men should be, shouldn’t be, are allowed to be, and don’t have to be: The contents of prescriptive gender stereotypes. Psychology of women quarterly, 26(4), 269-281. 

Alle Fotos sind von der Website www.unsplash.com entnommen.