Exkurs: Rede von Rektor Hendrik Lehnert zum Akademischen Jahresempfang

Exkurs | 03.05.2023

Wieviel Wissenschaft verträgt die Gesellschaft?

oder

Wieviel Gesellschaft verträgt die Wissenschaft?

Auszüge aus dem Vortrag anlässlich des akademisches Jahresempfanges der Paris Lodron Universität am 3. Mai 2023

Warum habe ich dieses Thema gewählt? Die Beantwortung sollte auf den ersten Blick einfach sein, leben wir doch unstrittig in einer Wissensgesellschaft und damit sollten diese Begriffe untrennbar verbunden sein und diese Frage sich nicht stellen. Und Wissen ist ebenso unstrittig eine immer wichtiger werdende Ressource – ohne dieses findet keine Innovation statt und sind Gesellschaften und Nationen wenig kompetitiv.

Aber die Wissenschaft, und damit meine ich systematische und im besten Wortsinne analytische Betrachtungen, sieht sich zahlreichen Herausforderungen gegenüber, die in dieser Form neu und auch unerwartet sind. Ohne die Überlegungen des Vortrages vorwegzunehmen, glaube ich, dass Wissenschaft in einer zunehmend digitalen und fragmentierten Gesellschaft neu definiert werden muss. Niemals wird Wissenschaft eine universelle oder universell akzeptierte Wahrheit oder eine objektive Repräsentation unserer Welt anbieten. Was sie aber kann, ist Interpretationen anbieten, die richtigen Fragen (idealerweise zur richtigen Zeit) stellen und zu Reflexion ermuntern. Die für mich dahinterstehende große Frage ist die, wie Wissenschaft diese Aufgaben transportiert, Unsicherheiten benennt, dennoch nie den Anschein von Beliebigkeit besitzt und damit von allen akzeptiert wird.

Diese Punkte möchte ich herausstellen:

  • Understanding Science (oder wie erkläre ich Wissenschaft und wie sie funktioniert in drei Minuten)
  • Ein neuer sozialer Kontrakt (oder wie begreifen sich Wissenschaft und Gesellschaft) und
  • Wissenschaft in einem globalen Kontext (denn nur durch Vernetzung verändert sich die Welt gemeinsam in die hoffentlich richtige Richtung)

Beginnen wir mit „Understanding Science“.

Nehmen wir zunächst die Definition von Wissenschaft, wie sie von der UNESCO vorgeschlagen ist: „Science is the greatest collective endeavor. … Science generates solutions for everyday life and helps us to answer the great mysteries of the universe… It has a specific role, as well as a variety of functions for the benefit of our society: creating new knowledge, improving education and increasing the quality of our lives. … To face sustainable developmental challenges, governments and citizens alike must understand the language of science and must become scientifically literate”.1

Dies klingt klar und vorwärtsgewandt, nur: so einfach funktioniert es nicht. Der Prozess der Analyse, Forsche und Wissensgeneration ist iterativ, nicht linear, dynamisch und oft nicht prädizierbar. Er führt zu neuen Fragen, neuen Fehlschlägen, neuen Ergebnissen. Und: Forschung befindet sich in einem steten Kreislauf, stellt sich selbst in Frage – nur so ist Fortschritt denkbar. Ich persönlich bin auch davon überzeugt, dass der Umgang mit Rückschlägen bei der Bearbeitung von wissenschaftlichen Fragestellungen (und nicht nur bei naturwissenschaftlichen Experimenten) in hohem Maße persönlichkeitsbildend ist – ein „I won‘t give up“ ist zwingend notwendig und hilft in vielen Situationen.

Über diesem Prozess dynamischer Forschungskonzepte stehen aber noch ganz wesentliche Fragen, die den Kontext und die Natur der Forschung betreffen.

Die Freiheit, sich in wissenschaftlichen Fragestellungen zu engagieren und zu forschen, muss gegeben sein – hierauf werde ich später noch einmal bei der Betrachtung globalisierter Wissenschaft zurückkommen. Dies ist das eine, das andere ist eine immer wieder diskutierte Dialektik von Grundlagenforschung und angewandter Forschung – eine nicht zuletzt auch aufgrund von Förderprogrammen und Sponsorenerwartungen motivierte Diskussion.

Es kann – so denke ich – nicht oft genug und nicht deutlich genug betont werden, dass beide ihren Stellenwert haben und insbesondere Grundlagenforschung unverzichtbar ist. Für mich ist Grundlagenforschung auch oft mit Risikoforschung verbunden – mit der Bearbeitung von Fragestellungen, die a priori nicht ansatzweise beantwortbar sind; aber wenn sie es sind, dann sind die Ergebnisse oft genug wegweisend. Natürlich fällt es oft sehr viel leichter, Mittel für eine neue Krebstherapie einzuwerben als solche für die Untersuchung der Grundlagen der DNA-Replikation oder vielleicht auch zu begründen, warum die Analyse frühägäischer Befestigungsanlagen wichtige Rückschlüsse auf die Verbindung zwischen Architektur und Landschaft zulässt. Eine überaus begrüßenswerte Entscheidung des FWF war es daher, im Rahmen der Exzellenzinitiative die sog. „Emerging Fields“ auszuschreiben, in deren Rahmen gerade Risikoforschung unterstützt wird.

Ergo: Angewandte Forschung ist ohne Grundlagenforschung nicht denkbar. Das beste Beispiel hierfür kennen wir alle aus der jüngsten Vergangenheit. Ugur Sahin und sein Team in Mainz und Adrian Hill in Oxford hatten und nutzten zu Recht alle Möglichkeiten der Grundlagen- und Risikoforschung, um einen Weg zu gehen, den sie ursprünglich nicht geplant hatten und den ihnen niemand gewiesen hat. Das Ergebnis ist bekannt: die Entwicklung der mRNA-basierten Vakzine hat zur erfolgreichen Eindämmung der Covid-Infektionen geführt und wird sicher zukünftig einen wesentlichen Erfolg in der Behandlung unterschiedlicher Tumorentitäten haben.

Und schließlich: Nur durch die Kombination eines kreativen Umfeldes und hochbegabter Wissenschaftler gelingen immer noch wissenschaftliche Erfolge durch Serendipity, durch glücklichen, aber nicht immer ganz zufälligen Zufall. Die Geschichten um Becquerel, Fleming und Newton kennen wir alle.

Das führt auch zu dem Anspruch, den wir haben müssen: Forschung muss exzellent sein. Gleichzeitig ist dies eines der schwierigsten Themen, denn:

  • Wie messen und bewerten wir Forschung als exzellent?
  • Ist es das Funding? Der gesellschaftliche Impact? Metriken? Zitierhäufigkeiten?

Unverzichtbar, und hierauf hat die Präsidentin des European Research Council, Maria Leptin, zuletzt wieder sehr klar hingewiesen, muss hier ein sehr eindeutiger, transparenter Evaluationsprozess sein, der auch die unterschiedlichen Fächerkulturen berücksichtigt und ohne Abkürzungen über rasch abrufbare Metriken wie den H-Index oder andere funktioniert.

Für uns, das will ich auch klar an dieser Stelle sagen, ist diese transparente Evaluation Verpflichtung, ebenso wie eine so differenziert wie mögliche Betrachtungsweise.

Kommen wir aber nun zu dem Thema der sozialen Verankerung (oder Distanz?) von Wissenschaft. Zu der Frage also, ob wir einen neuen sozialen Kontrakt benötigen.

Ich glaube ich muss nicht mehr betonen, dass die Wissenschaft ihren Ivory Tower verlassen hat. Die Universität und damit wir als Teil davon arbeiten in einem mehr oder weniger gut definierten gesellschaftlichen Kontext und befinden uns damit sehr rasch auch in einem Spannungsfeld: Unsere Forschung wird (Stichwort: vom Bund zugeteiltes Globalbudget) von der Gesellschaft finanziert, also ermöglicht. Auf der anderen Seite muss der damit verbundene gesellschaftliche Auftrag auch beinhalten, dass die so ermöglichte Forschung durchaus auf diesen gesellschaftlichen Kontext zurückwirken kann. Der Präsident der HRK in Deutschland, Peter Alt, hat hierzu vor kurzem sehr bemerkenswerte Sätze formuliert: „Wissenschaft benötigt Distanz zur Gesellschaft, um ihren sozialen Auftrag zu erfüllen. Dies ist nur scheinbar eine Paradoxie, vielmehr ein produktiver Grundsatz. Die Gesellschaft schenkt der Wissenschaft die im Grundgesetz verbürgte Freiheit, damit sie ihren Erkenntnisauftrag bestmöglich erfüllen kann. Im Gegenzug gibt die Wissenschaft der Gesellschaft diese Freiheit zurück, indem sie die Bürgerinnen und Bürger dazu einlädt, neue Denkperspektiven einzunehmen und überkommene Ansichten zu revidieren.“2

Sehr vieles davon ist richtig, denke ich, das Problem liegt aber unstrittig darin, dass wir uns – als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – dieser sehr fragilen Dialogform bewusst sind und die Ermöglichung der Reflexion und nachfolgend der Dynamisierung gesellschaftlicher Prozesse von den Aufgaben, die von anderen Handlungsträgern wahrgenommen werden müssen, sehr wohl trennen können.

Zwei Dinge sind es also hier, die in dieser Balance eine große Herausforderung darstellen: die großen Themen (wir kennen Sie alle: Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, Respekt vor der Identität des Einzelnen und der Gruppe) zum einen und eine immer ausgeprägter werdende Diversität und Diversifizierung innerhalb der Universität zum anderen. Wir sind uns sicher einig in der notwendigen Aufgabe, die Themen zu benennen, zu diskutieren und Lösungsvorschläge zu machen – wissend, dass die operative Umsetzung auf anderen Handlungsebenen geschieht. Hier beginnt in erster Linie die Aufgabe der Politik. Aber wir stehen mehr denn je vor der Aufgabe, auch Grenzen zu ziehen – dort zum Beispiel, wo Rede- und Meinungsfreiheit verletzt werden und Themen wie political correctness und cancel culture auch vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Freiheit diskutiert werden müssen; aber immer so, dass Werte und Respekt gewahrt bleiben. Nach wie vor gilt für mich auch, dass Universitätsbildung auch Persönlichkeitsbildung umfasst – die große Frage ist, wie in welchen Formen dies im universitären Alltag dialogisch gewährleistet wird.

In der Vermittlung von Wissen spielt in der Theorie von Max Weber analog zu dem Hume´schen Gedanken von „is – ought“ immer die Beziehung von Fakt und Wert eine Rolle – ein Ansatz, der hilft, unterschiedliche Perspektiven zu integrieren.

Ausgehend von diesen Überlegungen und vor allem von den Entwicklungen der Institutionen (Universität, Politik, Verbände, kulturelle Einrichtungen, Unternehmen) aufeinander zu ohne Störung durch Demarkationslinien ist von einem neuen sozialen Kontrakt zwischen der akademischen Welt und der Gesellschaft in einem bemerkenswerten Nature-Artikel von Michael Gibbons vor bereits über 20 Jahren gesprochen worden. Mir gefällt der Begriff, beinhaltet er doch, dass der sogenannte alte, bestehende Vertrag mit einer unidirektionalen Wissensvermittlung von der Universität in die Gesellschaft abgelöst und durch einen neuen ersetzt wird. Ein solcher ist dynamisch und meint den Austausch in beide Richtungen mit allen vorstellbaren Wechselwirkungen.

Sie erinnern sich, dass ich eingangs von einer fragmentierten Gesellschaft gesprochen habe, einer Gesellschaft, die Fakten, Wirklichkeiten und einem Dialog gegenüber in sehr unterschiedlicher Weise aufgeschlossen ist.

Ich fürchte, wir alle sind weit davon entfernt, hier eine tragfähige Lösung für Annäherungen und Diskussionen zu haben. Es ist für mich unstrittig eine der größten Aufgaben unserer Gesellschaft und (sic!) vor allem der Universitäten, Erkenntnisse zu gewinnen und akzeptable Dialogformen zu entwickeln – tun wir das nicht, wird es ganz sicher zu einer Spaltung der Gesellschaft und populistischen Entwicklungen an den Rändern des politischen und gesellschaftlichen Spektrums kommen.

Erkenntnisgewinn hinsichtlich dieser Phänomene und Entwicklung neuer Vermittlungsformen von Wissenschaft ist eine Riesenaufgabe und ich freue mich daher umso mehr, dass an einem der fünf im Rahmen der österreichischen Exzelleninitiative bewilligten Cluster of Excellence auch eine Gruppe aus Salzburg verantwortlich beteiligt ist. Gemeinsam mit der CEU als Lead Uni und anderen Partnern untersuchen Kolleginnen und Kollegen aus unserem Fachbereich Philosophie die „Crisis of Knowledge“. Die Ausgangslage ist treffend beschrieben: „Our claims to knowledge are being threatened by rapid and spectacular developments in technology, and by attacks on the very ideas and truth themselves. The flood of information on the internet challenges our ability to tell truth from falsehood, and there is a widespread rejection of the standards of scientific evidence and expertise.”3 Dieses Problem adressiert der Cluster und wir sind mehr als gespannt auf die Ergebnisse.

Spannende Kommentare dazu finden Sie im Übrigen auf der Plattform mit dem schönen Namen „Daily Nous“ (nicht Daily News…).

Einen Gedanken aus diesem Text aufgreifend, nämlich den der Flut von Informationen aus dem Internet sollten wir eine kurze Betrachtung aktueller Entwicklungen aus dem Bereich der Artificial Intelligence anschließen.

In überaus lesenswerten Beiträgen aus dem Economist werden die Large Language Models, zu denen GPT-4, das neurale Netzwerk hinter ChatGPT, nicht nur vorgestellt, sondern ihnen auch eine neue Dimension, nämlich nur die Transformation unseres Lebens, zugeschrieben werden. Die Sorgen gehen weit über die Fähigkeit hinaus, uns bei Hochzeitsreden oder Examina zu unterstützen (meine Rede ist übrigens noch ohne ChatGPT ausgekommen).

Denn: wir stehen vor der bislang größten und kaum vorstellbaren Herausforderung unserer Geschichte, der Frage, wie Mensch und Artificial Intelligence (AI) gemeinsam evolvieren. Und wenn wir dies nicht lösen, wird die Kluft in der Gesellschaft immer größer. Bereits jetzt haben wir die unfassbare Situation, dass nur wenige 100 km zwischen denen liegen, die AI und Cyberthemen vorantreiben und denen, die mit denselben Methoden wie vor etwas über 100 Jahren im Schützengraben sich gegenseitig umbringen.

Eines meiner Lieblingsbilder passt in seinem Motiv allzu gut hierzu. Dies ist eine Ihnen sicher gut bekannte Radierung von Goya aus der Serie Los Caprichos (die Launen), die ihn in einem Selbstbildnis schlafend zeigt. Nach zeitgenössischen Kommentaren (und ich mag diese Deutung am liebsten) ist es eine Fantasie über die Abwesenheit, also den Schlaf von Vernunft, die diese Monster schafft. Eine Aufforderung also, wachsam zu sein, denn sonst sind die Ungeheuer der Ignoranz nicht zu besiegen.

Wir nähern uns allmählich dem Ende des Vortrages und der Überlegung, wie durch Wissenschaft in einem globalen Kontext Kommunikation, Verständnis untereinander und Austausch ähnlicher Gedanken auch die großen gesellschaftlichen Themen aufgenommen und bearbeitet werden.

Science is interconnected – und spricht überall die gleiche Sprache!

Internationale Plattformen sind daher die beste Möglichkeit für Austausch und Fortschritt. Eine unserer wichtigsten ist sicher der European Research Council (ERC), der seine Projektvergabe über ein sehr kompetitives und transparentes Auswahlsystem steuert. Der ERC hat im vergangenen Jahr eine Analyse der bei ihm eingereichten Projekte veröffentlicht; diese zeigt eine Diversität der Themen zum einen, aber auch, dass die Mehrheit der Projekte die brennenden politischen Fragen adressiert. 34% waren medizin-bezogen, 14% beschäftigten sich mit Themen des Klimawandels und der Nachhaltigkeit und 10% mit der digitalen Transformation. Und im Bericht des Europäischen Panel on Climate Change stammte immerhin ein Drittel der zitierten Arbeiten aus bewilligten ERC-Projekten. Dies spricht aus meiner Sicht klar für die Bedeutung einer solchen europäischen Forschungsplattform.

Ich sprach eingangs auch von der Freiheit der Forschung und des akademischen Engagements. Die internationale Wissenschaftswelt ist sicher gut beraten, auf die weltweite Entwicklung der Wissenschaftsfreiheit zu achten. Der hier relevante Academic Freedom Index, ein Projekt der Unis Erlangen und Göteborg, aggregiert Daten aus den Jahren 1900 bis 2022, gefördert von der VW-Stiftung. Die Daten basieren auf

  • Freiheit von Forschung und Lehre
  • Campusintegrität (z.B. Anwesenheit Militär)
  • Institutionelle Autonomie der Hochschulen
  • Freiheit des akademischen Austauschs und der Kommunikation von Forschungsergebnissen
  • Akademische und kulturelle Ausdrucksfreiheit

Das Ergebnis ist ernüchternd; in 152 von 179 Ländern stagnierte die Wissenschaftsfreiheit, in 22 Ländern mit mehr als 4 Milliarden Einwohnern hat sie sich verschlechtert und nur in 5 Ländern verbessert.

Es gibt, meine Damen und Herren, keine russische, chinesische oder europäische Wissenschaft, es gibt nur Wissenschaft. Wir haben völlig zu Recht unsere Zusammenarbeit mit russischen Wissenschaftsinstitutionen beendet, aber müssen alles dafür tun, unsere gemeinsamen Themen auf gemeinsamen Plattformen zu bearbeiten und dürfen nicht aufhören, uns für unaufhörlich für Wissenschaftsfreiheit einzusetzen und dafür, dass Wissenschaft und Gesellschaft auch hierdurch weiter zusammenwachsen.


1 UNESCO (2023). Science for Society.  https://en.unesco.org/themes/science-society
2 Alt, P. (2019, 13. November). Debatte um die Rolle von Hochschulen: Wissenschaft benötigt Distanz zur Gesellschaft.  https://www.tagesspiegel.de/wissen/wissenschaft-benotigt-distanz-zur-gesellschaft-4118254.html
3 FWF (2023, 13. März). Austria’s first Clusters of Excellence. https://www.fwf.ac.at/en/news-and-media-relations/news/detail/nid/20230313-2850